: „Merkels milchtrübe Null-Jahre“
DEMOKRATIE Der Schriftsteller Simon Borowiak zum schweren Stand der Aufklärung in der Bundesrepublik zwischen Kant und Florian Silbereisen
■ geboren 1964, ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Er war Redakteur der Titanic. Zuletzt erschienen „ALK. Fast ein medizinisches Sachbuch“ und „Bring mir den Kopf vom Weihnachtsmann“, beide bei Eichborn.
INTERVIEW AMBROS WAIBEL
taz: Herr Borowiak, neueste Studien zum Rechtsextremismus bescheinigen den Deutschen zunehmenden Rassismus. Was kann Humor hier ausrichten?
Simon Borowiak: Ich fürchte, dass Rassismus/Extremismus und ähnlichen Hirnschäden kulturell/intellektuell/ironisch nicht beizukommen ist. Aber man sollte es immerhin versucht haben.
Fühlen Sie sich manchmal wie in einer schrumpfenden Demokratie?
Eher in einer brachliegenden. Aber Stuttgart lässt doch wieder hoffen.
Ihre Bilanz von Schwarz-Gelb?
Wenn man mal von den Verheerungen absieht, die die Wirtschaftsnuttenpartei FDP bewirkt hat, kann diese Zeit von mir aus als Merkels milchtrübe Null-Jahre in die Geschichte eingehen.
Was bedeutet für Sie Fortschritt? Was Avantgarde?
Fortschritt bedeutet für mich eine schleichende Humanisierung der Gesellschaft. Und die Avantgarde, das sind die bedauernswert missverstanden Vorturner dieser Entwicklung
Viel ist die Rede von den christlich-jüdischen Wurzeln. Wird die Aufklärung da bewusst vergessen?
99 Prozent der „Christlich-jüdisch“-Schwafler wissen doch gar nicht, was christlich-jüdisch eigentlich bedeutet. Und an einer stattgefunden habenden Aufklärung zweifle ich bei jedem Blick ins Fernsehprogramm. Hand aufs Herz: Darf man nach Kant noch Silbereisen senden?
Wie sind denn Ihre ganz persönlichen Beziehungen zum deutschen Muslim?
Dieselben wie zum deutschen Christen: Solange sie mich nicht zu ihrem Laden bekehren wollen und meinen Laden in Frieden lassen, kann ich nicht meckern.
Wenn Sie Stefan Mappus oder Rainer Brüderle im Fernsehen sehen – was fällt Ihnen als Erstes dazu ein?
Jede Menge justiziabler Verbalinjurien.
Die Demonstranten in Stuttgart haben die Deutschlandhymne gesungen – und „Wir sind das Volk“ angestimmt. Was halten Sie davon?
Wenn es auch nur einem der beteiligten Politiker ins Hirn zurückruft, von wem er gewählt wurde und wer ihm sein Gehalt bezahlt, sollen sie singen, was das Zeug hält.
Die Grünen als Volkspartei – spricht das für das Volk? Oder für die Grünen? Oder gegen beide?
Darf ich Pessimist diese extrem kniffelige Frage folgendermaßen beantworten? – Die einen sagen so, die anderen sagen so …
Was halten Sie denn überhaupt von mehr und direkter Demokratie – etwa anlässlich des Rauchverbots in Bayern?
Ich fand es puppenlustig, dass ausgerechnet der Verein zum Erhalt der bayerischen Wirtshauskultur beklagte, dass die Migranten beim Volksentscheid kein Stimmrecht hatten … Direkte Demokratie bedeutet wohl immer eine Gratwanderung zwischen Aufklärung und Silbereisen.
In Frankreich rebelliert man wegen eines späteren Eintritts ins Rentenalter, in Deutschland wegen Bahnhofsumbauten: Wären Sie lieber jenseits des Rheins geboren?
Gemäß meinem oben genannten Pessimismus möchte ich im nächsten Leben als nichtrauchender Franzose der Oberschicht zur globalisierten Welt kommen.