: Liebeshändel im Rauchzimmer
Die wunderliche Geschichte vom Oberstleutnant Reuss und andere Nachrichten aus den Kreisen der Gesellschaft
Der Notarius C. F von Schiepenbeck, der Intendanzrat Dr. Demetrius Weber und der Generaldirektor Gretz saßen im Rauchzimmer des beeindruckenden Hauses, welches Notarius C. F. von Schiepenbeck anlässlich seiner Verlobung mit der Frau Kammersängerin Babette Becker erst vor drei Monaten gekauft hatte. Soeben hatte man ein vortreffliches Mittagessen sich einverleibt, und während sich die Damen zurückgezogen hatten, um ein wenig zu ruhen, versammelten sich die genannten Herren also im Rauchzimmer, um die neuesten Ereignisse auszutauschen, die für keusche Damenohren nicht bestimmt waren.
„Nun hören Sie die wunderliche Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag widerfahren ist“, hob Generaldirektor Gretz zu sprechen an, und wir wollen uns erlauben, dem geneigten Leser den Inhalt der Gretz’schen Erzählung in Kürze wiederzugeben:
„Es hatte sich also begeben“, fuhr der Generaldirektor fort, „dass der Oberstleutnant zum Zwecke eines Liebeshändels die junge Frau seines untergebenen Soldaten Franz Lindow zu besuchen große Lust verspürte, hatte er doch bei diversen Gelegenheiten zu entdecken geglaubt, dass die liebreizende, wenngleich nicht wohlhabende Frau Lindow ihm, dem Oberstleutnant, nicht ablehnend gegenüber zu stehen schien. Um sich der Ungestörtheit des geplanten Besuches zu versichern, hatte der Oberstleutnant die Einheit des jungen Soldaten Lindow zum Manöver in das benachbarte Städtchen M* geschickt. Ein Umstand, der dem ahnungslosen Franz nicht gerade ungelegen kam, lebte doch in M* seine schöne Cousine Bettine Hunsteger. Ein hübsches Mädchen von jetzt 19 Jahren, mit dem sich Franz seit frühester Jugend innig verbunden fühlte, das er gar gern zur Frau genommen hätte, wenn nicht Bettinens Vorstellung von einer ehelichen Verbindung ihrerseits unbeirrbar in die Richtung des Geheimrates Johannes Gillgelöb tendiert hätte. Gillgelöb war ein Mann in den besten Jahren, der, wenngleich an die 20 Jahre älter als die kecke Bettine, ein – wie Bettine glaubte – nicht unbeträchtliches Vermögen besaß, welches Bettine durchaus in ihrem Sinne einzusetzen gedachte.
Nun waren aber die leidigen Umstände Bettinens Plänen nicht hold, denn Geheimrat Gillgelöb wahrte zwar nach außenhin den Schein, ein gutsituierter Herr der oberen Gesellschaft zu sein, allein, er war schon seit Jahren dem Roulette verfallen, eine Geißel der Zeit, der schon schwächere Charaktere, als Geheimrat Gillgelöb einer war, zum Opfer gefallen waren. Um dennoch seinen gewohnten, nicht ganz unaufwendigen Lebenswandel, der zurzeit noch auf den unsicheren Füßen zahlreicher Wechsel stand, beibehalten zu können, hatte Gillgelöb ein wachsames Auge auf Fräulein Gundula Kempmann, ein alleinstehendes Fräulein von nunmehr 45 Jahren, dass sich nie verheiratet hatte. Seine glückliche wirtschaftliche Lage erlaubte es dem dicklichen Fräulein Gundula seit Jahrzehnten, auf den Mann zu warten, der nicht nur auf den beträchtlichen Umfang ihres Bankkontos blickte, sondern sie um ihretwillen liebte und ihr Herz zu erobern wagte. Und eben dieser Mann gedachte Johannes Gillgelöb zu werden …“
An dieser Stelle brach der Generaldirektor Gretz seine Erzählung abrupt ab, denn es war spät geworden und das fröhliche Schnattern der eben erwachten Damen erhellte das Haus.
Die ganze heitere Gesellschaft entschloss sich dazu, nun eine Landpartie zu unternehmen. Kutschen wurden gespannt, das Personal packte eifrig Picknick-Körbe, und der Generaldirektor Gretz zwinkerte den Herren Notarius C. F. von Schiepenbeck und dem Intendanzrat Dr. Demetrius Weber verschworen zu. Er würde die wunderliche Geschichte, die dem Oberstleutnant Reuss am vergangenen Dienstag widerfahren war, demnächst weitererzählen … CORINNA STEGEMANN