: Wahrer Mozart, schöner Wagner
BERLINER PREMIERENWOCHENENDE An der Deutschen Oper inszeniert Roland Schwab Mozarts „Don Giovanni“, im Schillertheater dirigiert Daniel Barenboim seine neue Fassung des „Ring des Nibelungen“
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Die Party ist vorbei, Müllsäcke, umgestürzte Tische und Menschen im Koma liegen herum. Eine Leuchtschrift ist halb heruntergefallen, schafft es aber immer noch, immerzu den einen Satz vorbeiflimmern zu lassen: „Chi sono io, tu non sarrai“. Wer ich bin, wirst du nicht wissen – er weiß es nämlich selbst nicht, dieser Don Giovanni. Ein Schlüsselsatz des Werkes eigentlich schon immer, nur wird er meistens von der Regie vergessen, ebenso wie der Haupttitel „Il dissoluto punito“: Hier ist er das endlich, ein „Wüstling“, wie das Wort gewöhnlich übersetzt wird, und was damit heute gemeint sein kann, lässt sich in allen Einzelheiten studieren: ein gedankenloser Schnösel, der keineswegs einer unstillbaren sexuellen Lust verfallen ist. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, was das ist, das einzige, was er kennt, ist das Machtgefühl der Verführung. Er kriegt sie alle, „reich mir die Hand, mein Leben“, Leporello, sein Diener, führt Buch darüber: „in hispania mille e tre“.
Keine dieser unsterblichen Nummern klingt hier so schön zum Wohlfühlen, wie man sie kennt, obwohl sie wunderschön gesungen werden von Ildebrando d’Arcangelo und Alex Esposito, denn sie sind eingebunden in ein unglaubliches Crescendo seelenloser Bosheit. Es beginnt minimalistisch mit jungen Männern in Schwarz beim Golfen, endet mit einem wahren Weltuntergang in rot wabernden Nebelschwaden und bleibt immer ganz und gar bei Mozarts und da Pontes Text. Roberto Abbado dirigiert unauffällig, aber sorgsam auf alle Zwischentöne achtend, und so gelingt es, in der vollkommenen Form dieses Werkes seine Wahrheit zu erschließen, die man Mozarts Trauer nennen könnte. Menschen sind nicht gut, denn sie lügen mit all ihren Gefühlen, so wie Figaros Graf Almaviva, die beiden Mädchen in „Cosi fan tutte“ – und eben, am schlimmsten von allen, Don Giovanni. Er muss am Ende zur Hölle fahren, aber die Frauen, die ausgerechnet ihn immerzu heiraten wollen, sind nicht besser. Der Verführer betrügt niemanden, Donna Anna, Donna Elvira und auch das Mädchen Zerline selbst sind es, die sich mit ihrer Liebe betrügen.
Die Eiseskälte und Konsequenz verstört, mit der Schwab dieses existenzielle Verhängnis optisch in die neureiche Designerwelt von heute übersetzt. Mozart klingt bedrohlich weiter, die Welt vor dem Theater sieht danach gefährlich aus, denn natürlich hat Don Giovanni seine Höllenfahrt überlebt, Schwab lässt ihn mit den Fingern zur nächsten Runde schnippen.
Aber die Berliner Opernfülle sorgt dafür, dass man am anderen Tag sicher nach Hause kehren kann: zu Daniel Barenboim und seinem geliebten Wagner. Besser kann man diese Musik wohl kaum spielen und singen, als sie jetzt zu hören ist im umgebauten Schillertheater. Der intime Raum des Ausweichquartiers der Staatsoper macht sie zu einem fast körperlichen Erlebnis. Barenboim lässt das Orchester vibrieren und leuchten, nichts klingt bloß laut und pompös, selbst die banalsten Fanfaren haben innere Energie, Spannkraft und musikalische Logik über die bloß illustrierende Funktion hinaus, die ihnen Wagner zugeordnet hat. In einer Koproduktion mit der Mailänder Scala stellt Barenboim nun auch in Berlin seine neue Version des „Ring des Nibelungen vor“. Am Sonntag hatte „Das Rheingold“ Premiere. Hanno Müller-Brachmann, Johannes Martin Kränzle und Stefan Rügamer singen den Wotan, Alberich und Loge nicht nur ganz wundervoll, sie schaffen es durch ihr Schauspieltalent sogar, diesen Pappfiguren eine Art von Leben einzuhauchen. Mehr kann man im Ernst nicht erwarten, und so waren am Ende alle sehr glücklich und feierten ihren Maestro, sein Orchester und sein Ensemble.
Leider gibt es auch einen Regisseur dieses neuen Rings. Er heißt Guy Cassiers und macht in seiner Heimat Belgien seit längerem von sich reden durch Bühnenadaptionen großer literarischer Vorlagen, zuletzt von Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Der Dramaturg Michael Steinberg gibt sich im Programmheft große Mühe, uns zu erklären, dass wir mit ihm einen „Ring für das 21. Jahrhundert“ vor uns haben. Zu sehen ist nur der alte Wagner mit seinem ganzen Schwulst und wabernden Pathos – eben der Wagner, den Barenboim unten mit Erfolg wegdirigiert. Oben kehrt er wieder, jetzt mit Videos hochgerüstet und einer Tanztruppe, die alles, was die Figuren singen, mit gymnastischen Übungen begleitet. Es ist so furchtbar, dass man verzweifelt nach Erklärungen sucht. Mag sein, dass dem Publikum der Mailänder Scala ein Theater nicht zugemutet werden darf, das mehr ist als eine Schaufensterdekoration für Gesangsstars.