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Archiv-Artikel

Eine Minute für den Autor

Tolle Story, aber dann kamen wohl doch zu viele Bedenken, Kompromisse, Überarbeitungen: Helmut Krausser feiert in „Eros“ die lebenslange Obsession eines reichen Mannes für ein vom Schicksal herumgetriebenes Mädchen

In Robert Altmans Film „The Player“ spielt ein Hollywoodproduzent die Hauptrolle, der Ideen für Filme begutachten muss. Jeder Drehbuchautor, der zu ihm kommt, hat weniger als eine Minute Zeit, um den mächtigen Mann von seinem Projekt zu überzeugen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Helmut Krausser mit einer einminütigen Beschreibung seines neuen Romans „Eros“ diese erste Hürde nehmen würde. Das würde sich dann in etwa so anhören: Alexander von Brücken, der Sohn eines Industriellen, beginnt am Ende des Zweiten Weltkriegs eine kindliche Schwärmerei für Sofie, die Tochter eines Fabrikarbeiters, neben der er die Bombennächte im Luftschutzbunker verbringt. In den letzten Kriegswirren verliert er das Mädchen aus den Augen, doch die Abwesende wird für ihn mehr und mehr zu einer Obsession.

Als er sie schließlich wiederfindet, sind ihre Lebensentwürfe längst inkompatibel, Sofie weist ihn zurück. Als unsichtbarer großer Bruder überwacht der mittlerweile zum Großindustriellen gewordene Alexander von nun an begehrend und schützend das Leben Sofies, durch die Spießigkeit der Fünfziger, die Aufbruchsphase der Sechziger, das Abgleiten in den Terrorismus der Siebziger und schließlich ein halb freiwilliges Exil unter dem Schutz der Stasi in der DDR in den Achtzigern. Die Geliebte selbst weiß nie, wer da über sie wacht, die Begegnungen mit Alexander hat sie fast vollständig verdrängt, bis zu einer entscheidenden Begegnung …

Eine tolle Story, episch in ihrem historischen Bogen von der Nazizeit bis in die Gegenwart, tragisch mit der zum Scheitern verurteilten Besessenheit von Alex, komisch in der immer weiter auseinanderdriftenden Lebenswelt des imaginären Liebespaars, etwa beim Empfang des Schahs von Persien, den Sofie als Demonstrantin auf dem Platz und Alexander als Ehrengast in der Oper erlebt. Über die Besetzung der Hauptrollen würde man sich schon einig werden, jetzt müsste aus der Idee nur noch ein fertiges Drehbuch gemacht werden.

Doch hier fangen ja bekanntlich die Probleme erst an. Denn dann kommen die Bedenken, die Kompromisse, die Überarbeitungen. In einem Nachsatz schreibt Krausser: „ ‚Eros‘ entstand in der ersten Fassung 1997, in der siebzehnten und letzten 2005.“ Das erste Jahr macht die ursprüngliche Nähe zum Roman „Thanatos“ deutlich, der 1996 erschienen ist, zu einer Zeit, als Krausser dank dieses Buchs und des drei Jahre davor erschienenen Romans „Melodien“ als große Hoffnung galt. Die 17 Fassungen dagegen verdeutlichen, dass Krausser mit seiner guten Idee nicht zurande gekommen ist.

Vielleicht liegt das Problem ja in der Gesprächskonstellation des Romans, denn die ähnelt derjenigen aus „The Player“, allerdings mit ungekehrten Vorzeichen. Bei Krausser ist es der Mächtige selbst, der seine Geschichte einem Lohnschreiber erzählt. Die Finanzierung des Projekts ist also, metaphorisch gesehen, von Anfang an sichergestellt, es gibt daher keinen Drang mehr zu gefallen, zu begeistern oder wenigstens zu interessieren. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, reist auf persönliche Einladung zum gealterten und völlig zurückgezogen lebenden Alexander von Brücken, dessen märchenhafter Reichtum offensichtlich von Anfang an alles legitimiert: „Wer meiner Kollegen wäre seinem Ruf nicht gefolgt? Alle, ausnahmslos alle hätten sie ihre Neugier gestillt.“ Alexander beginnt nun, sein Leben und seine Nichtbeziehung zu Sofie zu erzählen, eine Reihe selbstkritischer Monologe, die auf Tonband aufgenommen und, ganz entgegen der Anweisung von Brückens, vom Erzähler wörtlich übernommen werden. Das verleiht dem Ganzen einen Hauch von postmodernem Spiel, etwa wenn Alexander meint: „Ich werde Ihnen Sofie nicht genauer beschreiben. Beschreiben Sie sie, aber so, dass jeder sich angesprochen fühlt.“ So versucht sich Krausser immer wieder aus der Affäre zu ziehen, wenn es darum geht, das von ihm Geschilderte nachfühlbar zu machen. Der Alte gibt den Auftrag zur genialen schriftstellerischen Umsetzung, der Junge protokolliert den Auftrag, und damit hat es sich.

So gelingt es Krausser zumindest ziemlich gut, die Absurdität und die Unwahrscheinlichkeit der lebenslangen Obsession des allmächtigen Magnaten für das vom Schicksal herumgetriebene Mädchen deutlich zu machen. Für ihn stellt sich Krausser offenbar jene Art von märchenhaftem, ins Groteske übergehendem Reichtum vor, den Dürrenmatt mit ein paar wenigen Sätzen evozieren konnte, doch in „Eros“ bleibt das bloße Behauptung. Statt Erotik, die im Buch überhaupt keine Rolle spielt, erfährt der Leser etwas vom „Eros des Überlebens, der sich verwandelte in den Eros der Macht“, und bekommt doch immer nur Beispiele für Ohnmacht geliefert. Mit all seinem Geld und seiner Macht kann Alexander weder Sofie für sich gewinnen, noch kann er ihr Leben steuern, ein Scheitern, dass nicht in Sofies Willen begründet liegt, sondern gerade in ihrer Willenlosigkeit, die sie, gemessen an dem, was sie für den Roman repräsentieren soll, und trotz ihrer Terrorismusbiografie, zu einer bemerkenswert uninteressanten Romanfigur macht. SEBASTIAN DOMSCH

Helmut Krausser: „Eros“. Dumont, Köln 2006, 318 Seiten, 19,90 Euro