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Archiv-Artikel

Die Rückkehr der Flaneure

FUSSGÄNGER Wer sich per Pedes fortbewegt, stößt keine Schadstoffe aus, behauptet FUSS e. V. seit 25 Jahren. Jetzt wollen auch andere Verkehrsexperten mehr Menschen gehen sehen

„Ein echtes Fußwegenetz ist in einer Stadt wie Berlin Utopie“

STEFAN LIEB, FUSS E. V.

VON HELMUT DACHALE

Im Wirtschaftswunderland der Nachkriegszeit hatten die Verkehrspolitiker noch Visionen. Ihre liebste: die autogerechte Stadt. Großzügig wurde in Tiefgaragen, Hochstraßen und Stadtautobahnen investiert. Die Fußgänger waren nichts als schwache, genau genommen störende Verkehrsteilnehmer – Kinder, arme Teufel, Müßiggänger. Weg da! „Wer ein Ziel hat, soll im Auto sitzen, und wer keines hat, ist ein Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächsten Park“, hieß es 1957 in einer Verlautbarung des Westberliner Senats.

Seitdem ist eine Menge passiert, davon ist Stefan Lieb überzeugt, Sprecher von FUSS e. V., der bundesweiten Bürgerinitiative „für mehr Sicherheit, Gesundheit und Spaß am Gehen“. Sogar Planer und andere Verantwortliche machten neuerdings „mehr Fortbildung in Sachen Fußverkehr“. So kürzlich in Wuppertal, wo auf den 6. Internationalen Verkehrstagen über „Zu Fuß in die Stadt der Zukunft“ debattiert wurde. Mehr Fußvolk auf den Straßen – das „kann für den Verkehr und unsere Städte überlebenswichtig sein,“ gab Carmen Hass-Klau dort die Richtung vor. Sie ist Professorin an der Bergischen Universität Wuppertal, Fachzentrum Verkehr.

Es geht nicht um Kilometer

Die Rückholung der Verbannten aus dem Park – aber sind die Fußgänger wirklich schon gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer? Wenn man sich nur ihre Kilometerleistung anschaut, sind sie ganz weit hinten. Nach Berechnungen des Umweltbundesamtes werden lediglich 3,3 Prozent aller Milliarden Personenkilometer hierzulande per Pedes zurückgelegt. Der Fahrradverkehr bringt es auf noch weniger (2,6 Prozent ), der motorisierte Individualverkehr (MIV) steht hingegen mit 75,5 Prozent unangefochten an der Spitze.

Das kann man auch anders sehen, meint Stefan Lieb. „Autowege werden gern in Kilometer gerechnet, da kann der Fußverkehr natürlich nicht mithalten.“ Ignoriert man jedoch den bundesweiten Verkehrsaufwand mit all den verfahrenen Kilometern, sondern zählt die Wege, die – unabhängig von ihrer Länge – innerhalb von Städten zurückgelegt werden, stellt man fest: Es wird wieder mehr zu Fuß gegangen. Zumindest in Berlin. So hat eine repräsentative Untersuchung (2008) ergeben, dass dort der Anteil der Fußwege auf 30 Prozent gestiegen ist (MIV 31 Prozent). So gesehen könnte das Gehen in Deutschlands größter Stadt bald spitze sein.

Das läge auch, so Lieb, an der neuen Hinwendung zum urbanen Wohnen. Das Wegziehen aus den Innenstädten sei gestoppt, und wer dort lebt und arbeitet, müsse zwangsläufig die eigenen Füße häufiger in Bewegung setzen. Umso wichtiger sei es, den gewachsenen Erkenntnissen über die umweltfreundlichen Fortbewegungsarten endlich Taten folgen zu lassen. Im Leitbild von FUSS e. V., vor gut 25 Jahren als „Fußgängerschutzverein“ gegründet und sich heute als „Fachverband Fußverkehr Deutschland“ verstehend, steht deshalb an erster Stelle: „Das Zufußgehen muss für Fußgänger, Spaziergänger und Wanderer sicherer, gesünder, angenehmer und attraktiver werden.“ Auch in den Metropolen könne das gehen – unter anderem durch die Anlage von Fußwegenetzen, inklusive Ausschilderungen und Abkürzungen, die exklusiv für Flaneure gedacht sind.

Vorreiter ist die britische Hauptstadt. Dort führen sieben spezielle Routen durch die Bezirke: „Walk London“, insgesamt 700 Kilometer lang. Sie sind so angelegt, dass man sich in kurzen Abständen vor allem die üblichen Sehenswürdigkeiten bequem erlaufen kann. Tower Bridge, Houses of Parliament, Buckingham Palace, London Eye – Sightseeing im Schlendergang. Die Wegweisungen sind einheitlich, Faltblätter und Audioführer vorhanden. Doch auch abseits der sieben stark touristisch ausgerichteten Pfade stoßen die Geher mehr und mehr auf großzügig gestaltete Infosäulen, die ihnen helfen sollen, auf den Beinen zu bleiben.

In Berlin entsteht Ähnliches. Dort haben in den letzten Jahren viele Ehrenamtliche ein 600 Kilometer langes Fußwegenetz erkundet und kartiert. Noch fehlt die Ausschilderung, aber in der Übersichtskarte Berlin „Flanieren – Spazieren – Wandern“ (Piekart Verlag, 2. Auflage, 4,95 Euro) sind die „20 grünen Hauptwege“ enthalten. Zu den Unterstützern des Projekts zählen neben BUND e. V., Berliner Wanderverband und Senatsverwaltung auch die organisierten Fußgänger. Klar, sie sind stolz auf dieses Projekt, geben aber auch zu, dass es noch unvollendet ist – und vielleicht bleiben wird. „Es wird immer Ausweichrouten und Umwege geben, ein echtes Fußwegenetz ist in einer Stadt wie Berlin wohl Utopie“, so Stefan Lieb. Doch etwas möchte er unbedingt: Auf den Berliner Hauptwegen solle keinesfalls nur promeniert, gewalkt oder gewandert werden. „Sie sollen auch dem Alltagsverkehr dienen“ den Menschen, die ein Ziel haben, Büro, Schule, Supermarkt oder Stadion. Ziele, die sie umgehend und sicher erreichen möchten.