: Das Gesetz wirkt sehr stimulierend
In seinem Spielfilm „Wholetrain“ zeichnet Florian Gaags ein angenehm realistisches Bild der illegalen Sprayer-Szene
Viele meinen, Graffitikunst hätte es nur kurz mal in den 80ern zu einiger Prominenz gebracht, als Grandmaster Flash „The Message“ rappte und der Film „Wild Styles“ ein großer Erfolg war. Doch die Szene der Graffitisprüher, Writer und Tagger, in der Florian Gaags sehenswerter Film „Wholetrain“ spielt, ist weiter aktiv. Man nimmt sie nur nicht mehr so wahr, weil ihre Werke durch drastische Strafverschärfungen aus dem Zentrum der Städte gedrängt wurden, die zu bemalenden Objekte besser beschützt und überhaupt die bemalten Stellen mit komplizierten Stoffen schnell wieder gereinigt werden, zumindest in den repräsentativen Stadtgegenden.
Dieser subkulturgeschichtliche Aspekt wird in „Wholetrain“ nicht ausdrücklich thematisiert, auch wenn der Film selber davon geprägt ist. Denn eigentlich spielt die Handlung in München, doch dort bekam man für Szenen, die auf Bahnhöfen und in Zugdepots spielen, keine Drehgenehmigung – auch weil die Verantwortlichen befürchtet hatten, der Film würde Jugendliche zum Graffitimalen verleiten. So wurden diese Passagen in Warschau gedreht, und das München, in dem der Film spielen soll, wirkt etwas unwirklich.
Diese Unwirklichkeit passt aber zu „Wholetrain“, der eine zeitlose, einfache, temporeich inszenierte Geschichte erzählt. Die vier Jungs von der „Keep Steel Burning“-Crew hängen gerne bekifft in ihren Zimmern rum, hören Hiphop und zeichnen an Vorlagen für neue Pieces, klauen Sprühdosen in Baumärkten und beschreiben Wände, Zugfenster, Bänke mit den Kürzeln ihrer Bande.
Der aufbrausende, streitsüchtige Tino ist schon überfordert, wenn er auf seinen kleinen Jungen aufpassen soll; David ist der künstlerisch begabte Typ, der grad zu einer Bewährungsstrafe wegen Sachbeschädigung verurteilt wurde. Achim ist neu, wird von David protegiert und von den anderen misstrauisch beäugt, weil er aus einem reichen deutschen Elternhaus kommt.
Irgendwann taucht eine neue Gang in der Stadt auf, der es gelingt, einen Waggon zu besprühen. Die Eifersucht ist groß. Böse Worte fallen. Ein Konkurrenzkampf entbrennt. Um den anderen zu beweisen, dass sie die Besten sind, beschließt die KSB-Crew, einen kompletten Zug zu bemalen.
Das ist die eher konventionelle Geschichte des bis in die Nebenrollen sehr gut besetzten Films, der gerade in Details überzeugt und Spaß macht. Am meisten, wenn quasi als Running Gag ein verstrahlter, an Aliens interessierter Freund der Helden auftaucht und verpeiltes Zeug erzählt. Besonders schön sind die unterschiedlichen sozialen Beziehungen beschrieben. Zwischen den Mitgliedern der Gang, zwischen Eltern und Söhnen, Bewährungshelfer und Delinquent usw.
Häufig müssen die Helden wegrennen, geraten gar in Lebensgefahr. Nachdem sie dann entkommen sind, können sie schön einen kiffen. Das Gesetz, das sie übertreten, ist gleichzeitig Stimulanz; es definiert einen Spielraum, intensiviert Orte und Begegnungen und schafft eine Hierarchie des Begehrten. Die Grenzüberschreitungen lassen die Grenzen aufleuchten und produzieren Lust.
Angenehmerweise verzichtet „Wholetrain“ weitgehend auf sich anbietende Überzeichnungen. Weder wird die herrschende Normalität denunziert, noch versucht der Film die solidarische, herzlich raue Gemeinschaft der Rebellen abzufeiern. Schade eigentlich, dass Vorortzüge nicht mehr bemalt werden, denn das Motiv des bemalten Zuges ist von großer Schönheit. In schwer bewachten Hallen schläft der Zug, der sich besprüht in einen wilden Comicdrachen verwandelt, den man dann auf die Leute loslässt, die im Bahnhof warten. Andererseits ist die Eisenbahn auch ein klassisches Jungsspielzeug vergangener Tage, um das der Vater seinen Sohn beneidet. Und die Musik? Ist natürlich auch ganz und gar prima!
DETLEF KUHLBRODT