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Archiv-Artikel

Berliner Charité prüft Patiententötungen

Eines der renommiertesten Krankenhäuser Deutschlands steht vor einem Rätsel: Eine Schwester gab zu, zwei Schwerkranke umgebracht zu haben. Doch ihr Motiv ist völlig unklar. Nun übergab die Klinik Ermittlern die Akten zu 15 weiteren Todesfällen

von ULRICH SCHULTE und KONRAD LITSCHKO

In der Berliner Charité, einem der ältesten Krankenhäuser Deutschlands, sind die Ärzte stolz auf ihre Fähigkeit, richtige Diagnosen zu stellen. Doch im Moment versagt jegliche Analysekunst. Nachdem eine Krankenschwester zugegeben hat, zwei schwerstkranke Patienten getötet zu haben, blieb ihr Motiv gestern weiter unklar – und in den Klinikfluren mischten sich Schock und Mutmaßungen. War es Überforderung, ein niedriger Beweggrund oder eine ganze eigene Auslegung von Sterbehilfe?

Die Leitung der Universitätsklinik hat mit der Prüfung aller Todesfälle auf der kardiologischen Intensivstation begonnen, in der die 54-Jährige gearbeitet hat – um mögliche weitere Tötungen aufzudecken. „Wir prüfen die Krankenakten auf Auffälligkeiten, zum Beispiel zu frühe Todeszeitpunkte“, sagt eine Charité-Sprecherin. Die Klinikleitung übergab den Berliner Staatsanwälten bereits 15 Akten von Patienten, die während der Dienstzeit der Schwester in den letzten zwei Jahren verstarben.

Am Donnerstag hatten leitende Ärzte in einer hastig einberufenen Pressekonferenz über den neuesten Fall von Patiententötung in Deutschland informiert. Die Krankenschwester hatte gestanden, zwei Patienten mit einer Überdosis eines blutdrucksenkenden Medikaments getötet zu haben. Die Männer, ein 62- und ein 77-Jähriger, litten an einer schweren Herzinsuffizienz, also einer Herzschwäche. Sie verstarben unerwartet plötzlich Mitte August und Anfang Oktober. Man sei durch den „untypischen Verlauf der Patientenkarrieren“ misstrauisch geworden, sagt Gert Baumann, der Direktor der Charité-Klinik für Inneres. Beide waren sediert, befanden sich also durch Medikamente in einem Dämmerschlaf – die Ärzte sahen keine Chance mehr für sie. „Sie wären wohl binnen zwei Wochen gestorben“, sagt Baumann. Wann die Ergebnisse der Obduktion vorliegen, sei unklar, hieß es bei der Staatsanwaltschaft. Zum Beispiel müsste das Blut analysiert werden. Neben diesen beiden prüft die Staatsanwaltschaft prüft noch einen weiteren Fall.

Serientötungen, bei denen Ärzte, Pfleger oder Schwestern pflegebedürftige Patienten ermorden, sorgten in den vergangenen Jahren mehrmals für Schlagzeilen. Im Jahr 2004 gestand ein Krankenpfleger im bayerischen Sonthofen, zahlreiche Patienten umgebracht zu haben. Er habe sie von ihrem Leid erlösen wollen, begründete er.

Was die Berliner Krankenschwester zu ihren Taten trieb, ist völlig offen. Die Beschuldigte habe sich zwar zu ihrem Motiv geäußert, sagte ein Staatsanwaltschafts-Sprecher gestern. Dies müsse aber durch Ermittlungen bestätigt werden.

Im Charité-Kollegium wird vor allem über falsch verstandene Sterbehilfe spekuliert. „Vielleicht hat sie so gehandelt, um das Leiden der Patienten zu beenden – oder eventuell sogar auf Wunsch der Angehörigen“, sagte ein Mitarbeiter gestern der taz. Die Krankenschwester galt als beliebt und kompetent. Baumann sagt, er habe die Frau „sehr geschätzt“.

Der Wissenschaftler Karl Beine forscht am Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Witten/Herdecke zu den Motiven von Patiententötungen. Er hat 70 Fälle weltweit analysiert. Bei den meisten Tätern spiele das Motiv Mitleid keine Rolle, sagt er – auch wenn es oft angegeben werde. „Viele Täter sind überdurchschnittlich unsicher und stark durch Anerkennung von außen motiviert.“ Bleibe die Anerkennung aus – zum Beispiel durch frustrierende Erfahrungen – komme es zu einer Grenzverwischung. „Die Tötungen werden eher in einer Melange aus Selbstmitleid und Mitleid mit dem Opfer begangen.“