: Fahren für Flensburg
Seit 50 Jahren ahndet das Kraftfahrt-Bundesamt Delikte mit Punkten. Bremsen lässt sich davon kaum jemand
Ob die Flensburger geahnt hatten, was da auf sie zukommt? Damals als der Stadt am Rand, deren Einwohnerzahl sich mit dem Kriegsende annähernd verdoppelt hatte, eine Bundesbehörde spendiert wurde, deren Aufstieg ganz unmittelbar an den der jungen Bundesrepublik gekoppelt war? Wen interessierte Anfang der 50er schon ein Kraftfahrt-Bundesamt.
Einige Jahre später allerdings, als der Bundestag am 11. Oktober 1956 das Amt per Beschluss gründen ließ, war der Verkehr auf deutschen Straßen dichter geworden und damit problematischer. Es wurden also in Bonn jene Punkte beschlossen, deren Synonym die Stadt Flensburg längst geworden ist. Auch weil sich auf den dortigen Computerfestplatten die Mitte der Gesellschaft trifft. Und in etwa die gemeinsame Einwohnerzahl der vier deutschen Millionenstädte Berlin, Hamburg, München und Köln.
8,2 Millionen VerkehrsteilnehmerInnen sind momentan im dortigen Zentralregister vermerkt, davon 6,6 Millionen Männer, aber nur 1,6 Millionen Verkehrsteilnehmerinnen. Noch deutlicher wird diese Diskrepanz bei den chronischen Verkehrssündern. 78.000 Männer und 2.000 Frauen haben durch fortwährende Regelverstöße gegenwärtig mehr als 14 Punkte angehäuft, sind also bereits zu einer Nachschulung geladen. Bei 18 Punkten, und hier hat man sich sinnigerweise am Führerscheinalter orientiert, folgt der Entzug der Fahrerlaubnis.
Der soziale Sinn eines Verkehrsschilds, so hat es der Kulturphilosoph Hartmut Böhme unlängst formuliert, sei eben gerade nicht die darauf dargestellte Botschaft, das darauf abgebildete Verbot. Der soziale Sinn eines Verkehrsschilds sei die Erkenntnis, „dass der Staat die Selbstregulierungsfähigkeit der Verkehrsteilnehmer als überfordert ansieht und die aktive Teilhabe am System Auto an spezifische Ausbildungsstandards, Prüfungen und Disziplinen bindet“.
Vielleicht nichts symbolisiert diese Disziplinierung besser als das Flensburger Verkehrszentralregister und die daran gekoppelten Maßregeln und Prüfungen. In der medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) zum Beispiel, landläufig gar nicht mal so falsch als „Idiotentest“ bekannt, geht es doch ge- nau darum: jene Verkehrsteilnehmer herauszusieben, die sich gemäß den Regeln asozial verhalten. Und die künftig eben nicht mehr mitspielen dürfen auf der großen Spielstraße namens Bundesrepublik, wo auch mehrmaliges sehr dichtes Auffahren bei 180 Stundenkilometern noch irgendwie okay geht.
Denn das ist ja die zweite Botschaft des Verkehrszentralregisters: Auch wer mit 13 Punkten unterwegs ist, braucht sich nicht als gefährlicher Verkehrsteilnehmer zu fühlen. Ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung gilt vielen noch immer als Kavaliersdelikt. CLEMENS NIEDENTHAL
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