: Hilflose Jugendhelfer
Der Fall Kevin hat deutsche Behörden wieder in die Kritik gebracht. Doch gegen viele Probleme ihrer Arbeit hilft auch nicht mehr staatliche Fürsorge, wie sie Familienministerin von der Leyen fordert
VON DANIEL SCHULZ
Der Staat soll sich stärker um die Kinder kümmern. Nach dem Fall Kevin in Bremen will Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) mit einem so genannten Frühwarnsystem für einen besseren Austausch zwischen Jugendämtern und anderen Behörden sorgen. Problemfamilien sollen auf diese Weise leichter erkannt und begleitet, vernachlässigte Kinder zur Not schneller aus der Familie genommen werden.
„Die Mitarbeiter der Jugendämter arbeiten auf einem schmalen Grat“, sagt Peter Senftleben, Stadtrat für Jugend und Familie im Berliner Bezirk Reinickendorf. Vier Probleme gibt es, an denen auch mehr staatliche Fürsorge kaum was ändern kann.
Das erste Problem ist die Zuverlässigkeit von Prognosen: Die Jugendämter und andere beteiligte Behörden versuchen, die Familien nach Möglichkeit nicht auseinanderzureißen, weil sich auch das für die Entwicklung des Kindes verheerend auswirken kann. Gleichzeitig müssen sie das Wohl des Kindes schützen. In Bremen hatte sich der für Kevin zuständige Sozialarbeiter auf die Prognose des Psychologen von Kevins Vater verlassen. Dieser war der Meinung, der Vater könne für den Jungen sorgen. Das stellte sich als verhängnisvoller Irrtum heraus.
Ähnlich sieht es bei der Beurteilung aus, ob ein Kind aus einer Familie herausgenommen wird, nachdem das Jugendamt von Nachbarn oder anderen Hinweise darauf erhalten hat, dass Eltern ihr Kind vernachlässigen oder gar misshandeln. Ob die Eltern der Erziehung des Kindes gewachsen sind, sei für einen Mitarbeiter des Jugendamtes mitunter schwer einzuschätzen, sagt Senftleben.
Im Bezirk Berlin-Reinickendorf arbeiten die Mitarbeiter des Jugendamtes daher mit Vorgaben, die sich an den so genannten Stuttgarter Kinderschutzbogen anlehnen. Darin wird zur Risikoermittlung etwa die körperliche und seelische Verfassung des Kindes abgeschätzt, aber auch die Beziehung der Eltern zum Kind und deren soziale Situation. „Psychische Verwahrlosung ist nicht einfach zu ermitteln“, so Senftleben.
Verhängnisvoll sind die Sparzwänge, unter denen die klammen deutschen Kommunen zu leiden haben. In Cottbus wurde die Zahl der Betreuer von Problemfamilien zwar von 11 auf 13 erhöht, nachdem dort der sechsjährige Dennis tot in einer Kühltruhe gefunden worden war. Doch jeder dieser Betreuer ist für 75 Fälle zuständig. In Berlin-Reinickendorf sind es 70 Fälle pro Jugendamtsmitarbeiter.
In Bremen sollte die Einweisung vernachlässigter Kinder in ein spezielles Heim zwar nicht nach wirtschaftlichen, sondern ausschließlich nach fachlichen Kriterien erfolgen. Doch in einem Papier der Sozialsenatorin vom August 2006 heißt es: „Die Zahl der Fremdplatzierungen darf nicht gesteigert werden.“ Doch Senat und Jugendamt hatten die Sparpolitik nach Meinung des Heimleiters schon früher verfolgt. So war die Zahl der Einweisungen in das Heim von 100 Kindern im Jahr 2004 auf 44 im Jahr 2005 zurückgegangen. Kevin war ebenfalls zweimal in diesem speziellen Bremer Heim, doch das Jugendamt veranlasste jedes Mal, dass er innerhalb kürzester Zeit an seine Eltern zurückgegeben werden musste. Das Jugendamt hatte im November 2005 die Vormundschaft für Kevin übernommen, trotzdem konnte ihn sein Vater zurückholen. „Die Schwelle, ein Kind dauerhaft gegen den Willen der Eltern von diesen wegzuholen, ist relativ hoch, weil das Elternrecht eine große Rolle spielt“, so Senftleben.
Ein viertes Problem ist der mangelnde Austausch von Informationen zwischen den Behörden. In Kindergärten gibt es zumeist keine Fallkonferenzen mehr, in denen bei Problemfällen Ärzte, Eltern und Erzieher gemeinsam über das Problem diskutieren. Jugendämter dürfen wegen der ärztlichen Schweigepflicht auch nicht unbedingt Auskunft von Kinderärzten verlangen, wenn ihnen eine verdächtige Familie gemeldet wird.
Ministerin Leyen will mit ihrem Zehn-Millionen-Euro-Programm einen besseren Informationsaustausch zwischen den beteiligten Behörden erreichen. Wie genau das geschehen soll, ist aber noch unklar.
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