: Der Weltenbürger von Belleville
Stadt & Migration: beispielsweise Paris. Marcel Rozental, Sohn einer jüdisch-polnischen Einwandererfamilie, hat jüdische, arabische und chinesische Nachbarn. Dort, wo früher seine Mutter Regenmäntel nähte, gibt es heute chinesische Nähstuben. Ein Streifzug durch die Einwanderergeschichte
von DOROTHEA HAHN
Wenn er sich vorstellt, buchstabiert er in wenigen Sätzen sein persönliches Programm: Widerstand. Proletariat. Migration. Marcel oder Mendel – wie es in den Geburtsunterlagen steht – Rozental ist ein typisches Kind von Belleville. Im Jahr 1929 in einer jüdisch-polnischen Einwandererfamilie geboren, hat er fast ununterbrochen in dem populären Quartier im Pariser Osten gelebt.
Als Kind hört er politische Diskussionen in den Cafés in Belleville, bei denen es auf Jiddisch um die Nazis geht. Nach dem Krieg gehen die Diskussionen in denselben Lokalen auf Arabisch und Berberisch weiter. Heute reden sie dort viel Chinesisch.
Mit seinen 77 Jahren bezieht Rozental längst eine Rente als Metallarbeiter. Aber er ist weiterhin aktiv: in Stadtteilinitiativen und auch bei der Verteidigung von Familien ohne Papiere gegen die Abschiebung. Er nennt sich ein „Kind der Einwanderung“. Schwärmt von „der Kameradschaft und Brüderlichkeit“ in Belleville.
Rozentals Vorfahren arbeiten im Łodź der Jahrhundertwende in der Textilindustrie. Fast alle gehören dem „Bund“ an, der großen sozialistischen Organisation der jüdischen Arbeiter. In den 20er-Jahren fliehen viele vor antisemitischen Pogromen und politischer Verfolgung in den Westen. Wie selbstverständlich wählen sie Frankreich. Die Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 ist noch frisch. Und Frankreich ist das Land, in dem alle gleich sind. Auch Juden.
Zwei Stadtteile in Paris ziehen die Flüchtlinge aus Osteuropa besonders an: das Marais und Belleville. Im Marais, erinnert sich Rozental, „wohnten vor allem Zionisten, in Belleville Linke.“ Die Rozental ziehen nach Belleville. Die vierköpfige Familie Rozental mietet einen Raum in einem Hinterhof an der rue Bisson. Die Nachbarn sind Franzosen, osteuropäische Juden, Armenier aus der Türkei und Griechen. Nach dem Sieg der Franquisten kommen Republikaner aus Spanien dazu. Viele sind ohne Papiere. Viele sind Heimarbeiter – verdienen ihren Unterhalt als Schuster und Schneider. Auf dem Hinterhof in der rue Bisson gibt es eine gemeinsame Toilette. Gebadet wird in den städtischen Bains-Douches.
Marcels Mutter kauft eine Nähmaschine und stellt Regenmäntel her. Der Vater übernimmt den Vertrieb. Und ist – vor allem – gewerkschaftlich und politisch aktiv. Abends räumen die Rozental die Maschine zur Seite und klappen die Matratzen herunter. Zu Hause sprechen sie Polnisch und Jiddisch. Die Mutter trällert Opern auf Deutsch. Tägliche Lektüre ist die französische Zeitung Humanité – die Kinder sollen die Landessprache lernen. Die großen Vorbilder der Rozental sind Thälmann, Thorez, der Chef der französischen KP, und die „Pasionaria“, die Präsidentin der spanischen KP, die 1937 eine flammende Rede in Paris hält. Die Rozental gehen zur 1.-Mai-Demo und alljährlich im Mai zur „Mauer der Föderierten“ auf dem Friedhof Père Lachaise. Dort sind im Mai 1871 die letzten Kommunarden füsiliert worden.
Zu der wenige Schritte entfernten Synagoge in der rue Julien Lacroix gehen sie nicht. Einmal schaut Marcel mit Spielkameraden herein. „Das hat mich überhaupt nicht berührt“, sagt er sieben Jahrzehnte später. Seinen Judaismus entdeckt er erst, als die Nazis Paris besetzen und seine Verwandten verschwinden. Einer der ersten Deportierten aus dem Quartier ist Marcels Vater. Er wird bei einer Straßenrazzia im August 1941 verhaftet. 1943 trifft es seine Lieblingstante Sarah. Der 13-jährige Marcel ist der Letzte, der sie in der Polizeiwache umarmen kann. Weder Vater noch Tante kommen aus Auschwitz zurück.
Die Mutter, die als Jüdin nicht arbeiten darf, und die beiden kleine Söhne bleiben allein zurück. Wenn Marcel ins Kino geht, lässt er den Judenstern zu Hause, und seine Freunde umgeben ihn wie eine Schutzmauer. Als er an der Schule am Boulevard de Belleville als „dreckiger Jude“ beschimpft wird, geht seine Mutter – mit Judenstern – zum Direktor und beschwert sich. Der Direktor ruft alle Schüler zusammen und sagt, dass er keine derartigen Vorfälle toleriert. „Im Jahr 1942 war das mutig“, sagt Rozental.
Bei der Razzia im Juli 1942, bei der tausende Pariser Juden verhaftet werden, holen Nachbarn die Rozental zu sich. Aus dem Fenster verfolgt Marcel, wie Polizisten Freunde abführen. Später bringt die Mutter ihre Söhne in ein Versteck außerhalb der Stadt. Sie will sie vor Razzien schützen. Und zugleich verhindern, dass ihr Ältester in den Widerstand geht. Im Jahr 1943 hat Marcel das Plakat „affiche rouge“ gesehen, das die Gesichter von zehn jungen Männern zeigt, die wenig später als „Terroristen“ hingerichtet werden: Juden, Armenier und Spanier. Das Plakat soll abschrecken. Aber bei Marcel bewirkt es das Gegenteil. Er ist stolz auf die „Terroristen“ und will sich selbst der Résistance anschließen. Seine Mutter entscheidet: „Ein Mann in der Familie ist weg. Das reicht.“
Nach Kriegsende kommen nur wenige Juden nach Belleville zurück. Die neuen Einwanderer sind Männer, die ohne Familien kommen. Sie mieten sich in Wohnheimen ein und schicken ihr Geld nach Nordafrika. Rozental arbeitet zusammen mit Nordafrikanern in den damals noch zahlreichen Metallbetrieben von Belleville. Als 1954 in Algerien der Krieg beginnt, demonstriert er mehrfach mit algerischen Kollegen auf der rue de Belleville für die Unabhängigkeit.
Das Ende des Kolonialkrieges führt wieder neue Einwanderer nach Belleville. Die sephardischen Juden bringen die Religion in das Quartier. Und damit neue Konflikte. Während des Sechs-Tage-Krieges hat Rozental ein Handgemenge mit sephardischen Juden auf dem Boulevard de Belleville. Sie wollen ihn am Verkauf der Humanité hindern. Sie unterstützen Israel. Er die Palästinenser.
In Belleville, der einst laizistischen und linken Hochburg, ist aus einem Kino, das auf sowjetische Filme spezialisiert war, ein religiöses jüdisches Zentrum geworden. Daneben reihen sich jetzt zahlreiche Lokale, die die Aufschrift „koscher“ sowie Davidsterne im Schaufenster haben. Heute servieren sie Couscous. In Rozentals Kindheit gab es dort Karpfen und geräucherten Hering. „Vielleicht war das damals auch koscher“, lacht der alte Mann, „aber niemand hätte damit Werbung gemacht.“ Er geht lieber in arabische Restaurants. Lässt seinen verbliebenen Haarkranz für 7 Euro von einem Tamilen schneiden. Kauft sein Fleisch bei einem Ägypter. Und holt das Brot bei einem Marokkaner, dessen Tresen jetzt im Ramadan mit honigtriefenden Süßspeisen für das Fastenbrechen beladen ist. Seine Zeitung kauft Rozental bei dem Sprössling einer Berber-Familie aus Nordafrika. Zwischen den Zeitungsstapeln kommt es schon am frühen Morgen zu politischen Diskussionen.
In der rue de la Présentation, wo Rozentals Mutter früher zu besonderen Anlässen Matzenbrot und Apfelkuchen kaufte, hängen heute lackierte Enten in den Schaufenstern. Auf Zetteln an einer Hausfassade an der rue de Belleville werden gebrauchte Nähmaschinen zum Kauf angeboten. Die Zettel sind in chinesischen Schriftzeichen verfasst. In Belleville gibt es weiterhin Nähstuben. Heute arbeiten dort chinesische Einwanderer. Nicht wenige sind ohne Papiere und arbeiten ihre Schulden bei den Schleppern ab, die sie nach Europa gebracht haben.