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Archiv-Artikel

Schönfärbereien eines Spaziergängers

Heute vor 100 Jahren besetzte Friedrich Wilhelm Voigt das Rathaus von Köpenick und hielt in Secondhand-Uniform die preußische Obrigkeit zum Narren – neu nachzulesen in seiner vergnüglichen, wiederaufgelegten Autobiografie

„Halt!“, befahl Friedrich Wilhelm Voigt am 16. Oktober 1906 einem Unteroffizier und vier Füsilierern des Wachkommandos der Militärschwimmanstalt von Plötzensee. „Auf allerhöchste Anordnung des Kaisers“ würden sie hiermit seinem Befehl unterstellt, schnarrte er. Die Soldaten, die gerade ihrer Kaserne entgegenmarschierten, parierten gehorsamst, ebenso die sechs Männer des 4. Garde-Regiments zu Fuß, die Voigt kurz darauf akquirierte.

Voigt zog mit ihnen nach Köpenick, besetzte das Rathaus, verhaftete den Bürgermeister und beschlagnahmte den Inhalt der Amtskasse i. H. v. 3557,45 Mark. Anschließend spazierte er in aller Seelenruhe zum Bahnhof und fuhr in einem Bummelzug nach Berlin unbehelligt davon.

Diese „Köpenickiade“ machte den aus Tilsit stammenden Gewohnheitsbetrüger und Schuhmacher vor genau 100 Jahren weltberühmt. Carl Zuckmayer verfasste nach seiner Geschichte eine dreiaktige Tragikomödie, die gleich mehrfach verfilmt wurde. Auch ein Denkmal vor dem Köpenicker Rathaus erinnert an den Kleinkriminellen, der sich in diversen Trödelläden eine Hauptmannsuniform zusammengekauft hatte und damit Preußens obrigkeitshörige Bürger und Beamte zum Narren hielt.

Zehn Tage später wurde er verhaftet; nach einem „Gnadenerweis Seiner Majestät des Kaisers“, Wilhelm II. höchstselbst, entließ man ihn 1908 jedoch vorzeitig aus der Haftanstalt Tegel. Da war er längst ein gefeierter Promi: In den darauf folgenden Jahren verkaufte Voigt Autogrammkarten, hielt Vorträge, tingelte als „Hauptmann“ durch Varietés und Zirkusse, sogar in New York ließ er sich feiern.

Teil seiner cleveren Selbstvermarktung war auch seine Autobiografie: 1909 erschien sie erstmals im Berliner Verlag Emil Gaul, zuletzt wurde sie 1986 bezeichnenderweise im Eulenspiegel Verlag wiederaufgelegt; nicht minder trefflich ist sie indes bei Werner Labisch und Jörg Sundermeier vom Berliner Verbrecher Verlag aufgehoben.

In seinen Erinnerungen stellt Voigt seine Tat schönfärberisch als Akt der Gerechtigkeit dar, durch den er nur rächte, was der preußische Staat an ihm verbrochen hatte. Denn nach eigener Schilderung war Voigt in den Jahren vor seinem berühmten Ganovenstück mehrfach wegen kleinerer Schandtaten zu aberwitzig langen Haftstrafen verurteilt worden.

Nach seiner Entlassung wurden ihm auch die für seine Auswanderung dringend benötigten Reisedokumente versagt. Nur um die Beschaffung dieser Papiere sei es in Köpenick gegangen, so will er einem weismachen. Bloß: Im Köpenicker Rathaus gab es überhaupt keine Passstelle. Dafür allerdings 2 Millionen Mark im dortigen Tresor – so hatte es Voigt zumindest in der Zeitung gelesen.

Einen berufeneren Nachwortschreiber als Ludwig Lugmeier hätten Labisch und Sundermeier für diese vergnüglichen Selbstbeweihräucherungen kaum auftreiben können. Der 1949 geborene, gleichfalls legendäre Ganove machte sich mit Überfällen auf Geldtransporte einen Namen. Berühmt wurde er, als er 1976 während seines Prozesses in Frankfurt durch einen Sprung aus dem Fenster des Gerichtssaals entkam.

Lugmeier lobt den Lebensbericht als „einzigen authentischen Bericht über Friedrich Wilhelm Voigt“ und betont gleichzeitig, mit welcher politischen Tragweite dieser den erbärmlichen Untertanengeist des preußischen Staates entlarvte: „Außer der Halsbandaffäre hat keine kriminelle Tat je ein politisches System so erschüttert wie der Überfall auf das Rathaus in Köpenick.“ Als ausgewiesenem Experten wird man ihm bei dieser Bewertung gewiss vertrauen dürfen.

Umso herrlicher kann man sich dann über die dämlichen Beamten ins Fäustchen lachen, die nach Voigts Verhaftung die Uniform als Beweismaterial suchten: „Sie haben hinterher den ganzen Kreuzberg umgegraben, in der Hoffnung, doch meine Kleidung zu finden. Dass mir dies bei allem Unbehagen einen gewissen Genuss gewährte – wer wird es mir verargen?“

BRIGITTE PREISSLER

Wilhelm Voigt: „Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Ein Lebensbild“. Mit einem Nachwort von Ludwig Lugmeier. Verbrecher Verlag, Berlin, 128 Seiten, 14,99 €