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Archiv-Artikel

Familienappell im Kanzleramt

Die Kanzlerin verspricht ein 75-Millionen-Programm für betriebliche Kinderbetreuung und ruft Firmen zu mehr Familienfreundlichkeit auf. Allerdings zeigt eine Studie, dass flexible Arbeitszeiten den meisten Eltern nichts nützen

VON HEIDE OESTREICH

Die Bundesregierung will es der Wirtschaft erleichtern, im Betrieb für die Betreuung der Mitarbeiterkinder zu sorgen. Beim gestrigen „Familiengipfel“ im Kanzleramt versprach die Regierung den Wirtschaftsverbänden, ein Programm mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds auf den Weg zu bringen, mit dem die betriebliche Betreuung kofinanziert werden kann.

Rund 75 Millionen Euro könnten in diesem Programm abgerufen werden, um damit jeweils die Hälfte der Kosten für firmeneigene Betreuungsarten zu finanzieren, die andere Hälfte muss der Betrieb selbst zahlen. 15.000 neue Betreuungsplätze könnten so entstehen. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag wollen im Gegenzug bei ihren Mitgliedsfirmen für familienbewusste Personalpolitik werben. „Familienbewusstsein soll das Markenzeichen der deutschen Wirtschaft werden“, sagte Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Sie will etwa das Audit „Beruf und Familie“, das Firmen für familienbewusste Politik erhalten, weiter bekannt machen.

Allerdings reisen auf diesem Zug auch viele Firmen mit, die nicht in erster Linie familienfreundlich denken, konnte die Sozialwissenschaftlerin Eva Munz zeigen. Munz hat Daten des Instituts zur Erforschung sozialer Chancen in Köln ausgewertet, das 4.000 Angestellte zum Thema flexible Arbeitszeiten repräsentativ befragt hatte. So polieren zwar Unternehmen, die Gleitzeit oder andere Modelle „selbst gesteuerter Arbeitszeit“ anbieten, gerne ihr Image als familienfreundliche Firma. Die Realität sieht allerdings oft anders aus, fand Munz heraus.

Es zeigte sich zwar, dass ein knappes Drittel der Mitarbeiter seine Arbeitszeit selbst mitsteuern kann. Doch sie waren weit davon entfernt, dies nach ihren eigenen oder familiären Bedürfnissen einzurichten. Ob sie Familie hatten oder nicht, war für die Firmen nämlich kein Grund, die Arbeitszeiten zu flexibilisieren – sie versprachen sich vielmehr eine bessere Ausnutzung der Arbeitskraft.

Folgerichtig ergab sich, dass gut die Hälfte der Beschäftigten in flexiblen Modellen ihre Arbeit unter hohem Zeit- und Leistungsdruck verrichteten. Deshalb dehnten sie ihre flexible Zeit vor allem aus: Bei einem Drittel von ihnen fielen mehr als vier Überstunden pro Woche an. Mal eben früher nach Hause gehen oder kurzfristig frei nehmen, weil das Kind krank ist? Fehlanzeige. Nur 19 Prozent der flexiblen Angestellten haben ihre Arbeitszeiten aus privaten Gründen verändert. 60 Prozent dagegen passten sich betrieblichen Erfordernissen an.

Gerade Männer tendieren bei selbst gesteuerten Arbeitszeiten zur „Entgrenzung“. Nur halb so viele Mütter wie Väter neigten zu dauerhaften Überstunden.

Die Autorin der Studie, Eva Munz, betont, es sei wichtig, dass man bei angeblich familienfreundlichen Arbeitszeiten genau hinsieht. „Es gibt Unternehmen, die Ausgleichsregelungen für Überstunden fest vereinbart haben. Dort sind die Chancen größer, dass man seine Überstunden auch wirklich abbauen kann.“ Wo es dagegen nur selbst gesteuerte Arbeitszeit ohne weitere Regeln gibt und zugleich einen hohen Leistungsdruck, da ist kaum mit echt familienfreundlichen Maßnahmen zu rechnen.

Ein Trost: Die wenigen Firmen, die wirklich das „Audit Beruf und Familie“ erworben haben, meinen es ernst mit der Familienfreundlichkeit, versichert Audit-Geschäftsführer Stefan Becker. „Wir gucken genau hin, wie sich die Maßnahmen auswirken. Wenn sie kontraproduktiv werden, heißt es nachbessern!“