: Wenn die Welle nicht weichen will
Zwei Jahre nach dem Tsunami sind viele Menschen in Südostasien noch immer traumatisiert. Psychologen und Psychiater aus Thailand besuchen deshalb die Rheinischen Kliniken in Essen, um sich über die Traumaforschung zu informieren
VON LUTZ DEBUS
Der Tsunami, der Weihnachten 2004 Südostasien traf, ist von Europa aus betrachtet fast schon Geschichte. Viele Häuser an den Küsten des Indischen Ozeans sind mittlerweile wieder aufgebaut. Aber unter den psychischen Folgen der Flutwelle leidet noch heute ein großer Teil der Überlebenden. Entsprechende Hilfe gibt es vor Ort kaum.
Aus diesem Grund besuchte Anfang der Woche eine Delegation von acht Psychiatern und Psychologen aus Thailand die Rheinischen Kliniken Essen, um sich über den aktuellen Stand der Psychotraumatologie zu informieren. Zu diesem Wissenschaftszweig wird in Nordrhein-Westfalen besonders in Essen und an der Uni Köln geforscht. An der Rheinischen Kliniken in Essen gibt es zusätzlich seit drei Jahren eine Traumaambulanz.
Welche psychischen Schäden der Tsunami verursacht hat, erläutern die sechs Frauen und zwei Männer aus Thailand an einem Beispiel: Ein Mann sitzt in einem Strandcafé unter Palmen. Plötzlich springt er ohne erkennbaren Grund wie von der Tarantel gestochen auf, schreit, wirft Tische und Stühle um. Erst nachdem er einige hundert Meter gerannt ist, bricht er zusammen. Es dauert Stunden, bis er wieder in der Realität angekommen ist. Ausgelöst durch den Schrei eines im Sand tobenden Kindes hatte er sich wieder in der Flutwelle gewähnt.
Solche Symptome sind typisch für schwer traumatisierte Menschen, sagt Andrea Möllering, Psychiaterin in der Traumaambulanz. Wie Schizophrene können Traumapatienten unter Halluzinationen leiden. Hirnorganisch, so referiert Möllering den Gästen, sei das Phänomen des Traumas teilweise schon erforscht. Menschen verfügen im Gehirn über einen so genannten Mandelkern. Diese „Amygdala“ könne schnell auf gefährlich erscheinende Sinneswahrnehmungen reagieren. Das laute Quietschen von Autorädern zum Beispiel erschreckt Menschen zunächst. Wenn beim näheren Hinsehen die Situation dann doch nicht als gefährlich bewertet wird, beruhigt das Großhirn das Alarmzentrum. Dies geschieht in dem nach seiner Form benannten „Seepferdchen“, dem Hypocampus.
Bei Traumapatienten befinden sich in diesem Teil des Hirns Blockaden. So kann ein einziger eigentlich harmloser Sinnesreiz Betroffene in lang andauernde Panik versetzen. Dieses Phänomen bezeichnet die Psychotraumatologie als „triggern“.
Viele Menschen, erklärt Möllering, erleiden Traumata. Manche Schätzungen gehen sogar davon aus, das fast jeder Zweite in Deutschland schon einmal kurzfristig in existenzielle Not geraten ist. Die Mehrzahl kann ohne professionelle Hilfe früher oder später wieder ein normales Leben führen.
Wenn allerdings das Trauma besonders schwer war, es sich wiederholt oder schon in der Kindheit Traumatisches erlebt wurde, können die Auswirkungen eines Traumas krank machen, sogar lebensbedrohlich werden. Auch die aktuellen Rahmenbedingungen spielen eine Rolle. Betroffene, deren soziale Situation keine Sicherheit bietet, sind gefährdeter, dauerhaft wegen eines Traumas zu erkranken.
Spätestens dann ist eine Therapie nötig. In einem ersten Schritt ist es wichtig, den Traumatisierten ein sicheres Leben zu ermöglichen, erklärt Andrea Möllering. Elementare Dinge wie Essen, Trinken und Wohnen müssen gewährleistet sein. Erst dann kann mit der eigentlichen Therapie begonnen werden. Diese Voraussetzungen sind, sagen die Gäste, in Thailand oft schwer umsetzbar. Das Meer als ständige Erinnerung, als ständige Bedrohung, ist für viele Tsunamiopfer allgegenwärtig. Da sie nicht alle umgesiedelt werden können, habe man versuchen müssen, die Patienten langsam wieder an das Wasser zu gewöhnen.
Die Therapeuten in Essen empfehlen den Kollegen aus Thailand deswegen eine Methode aus der Hypnotherapie. Diese kann von Patienten in Paniksituationen angewandt werden, um sich zu beruhigen. Jeder Teilnehmende sollte sich vorstellen, an einem sicheren Ort zu sein. Auf diese Weise sollen die Patienten wieder stabilisiert werden. In einem zweiten Schritt, also in der eigentlichen Traumabearbeitung, so Möllering, werde versucht, die allmächtig erscheinenden Bilder unter Kontrolle zu bekommen. Patienten sollen sich vorstellen, auf einer Leinwand das Schreckensszenario noch einmal zu sehen.
Allerdings, und dies ließe sich trainieren, sollen die Patienten dabei über eine imaginäre Fernbedienung verfügen, mit der man das Bild unschärfer, den Ton leiser stellen könne. Auch könne man lernen, die unerträglichen Bilder in der eigenen Vorstellungswelt in einen Tresor zu legen. An dieser Stelle wurden wieder die kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern deutlich. Denn einen Panzerschrank kann sich eine Inselbewohnerin nicht vorstellen, argumentieren die Thailänder. So einigt man sich auf den traditionellen Ort für wertvolle Gegenstände, eine Kalebasse.
Durch den Tsunami, so stellte sich bei der gemeinsamen Diskussion heraus, ist in der Öffentlichkeit in Thailand das Thema Trauma erst aktuell geworden. Inzwischen gehen die Fragen weiter. Was gibt es für individuelle Katastrophen? Was bewirkt familiäre Gewalt? Was bewirkt sexueller Missbrauch? Diese Fragen sind nicht nur für die Besucher aus Thailand heikel. Auch in Deutschland erinnert sich mancher Feuerwehrmann, der nach einem tragischen Einsatz in die Ambulanz nach Essen kommt, während der anschließenden psychotherapeutischen Behandlung an längst Vergessenes aus seiner Kindheit.