: Gute Heime, schlechte Heime
ITALIEN Die Menschenrechtslage für Flüchtlinge ist in Italien ziemlich schlecht. Doch es gibt auch Gegenbeispiele. Für einige Tausend Menschen gibt es Hoffnung auf Integration
AUS ROM MICHAEL BRAUN
Es herrscht wieder einmal „Emergenza“ in Italien. Zuhauf haben sich Syrer, Nigerianer, Kurden oder Eritreer in den letzten Tagen und Wochen auf den Weg übers Mittelmeer von Libyen nach Sizilien aufgemacht, und angesichts von etwa 20.000 seit Jahresanfang eingetroffenen Flüchtlingen ruft Innenminister Angelino Alfano den „Notstand“ aus. Laut Alfano waren es im gleichen Vorjahreszeitraum gerade einmal 2.000 Menschen. Und, schlimmer noch, an Libyens Küsten säßen, so der Minister, 300.000 bis 600.000 Personen, bereit zum Aufbruch nach Europa. In Wirklichkeit sind es wohl deutlich unter 100.000.
Notstand also – ein Notstand allerdings, der in Italien mit unschöner Regelmäßigkeit so sicher wie der Sommer kommt. Und mit den immer gleichen Bildern: Erst die völlig überfüllten Schaluppen auf dem Meer, dann die ausgezehrten, erschöpften Gestalten, die sich auf Lampedusa oder einem der sizilianischen Häfen drängen, und schließlich Afrikaner, Araber, Asiaten hinter einem Zaun, irgendwo in der sizilianischen Einöde.
Vor drei Jahren wurde eine frühere US-Soldatensiedlung in der Nähe des Städtchens Mineo zur Asyleinrichtung umgewidmet – unter dem klangvollen Namen „Villaggio della Solidarietà“, Dorf der Solidarität. 2.000 Plätze stehen in den zahlreichen kleinen Reihenhäuschen zur Verfügung. Heute wohnen dort 4.000 Menschen. Das Innenministerium hat die Lagerleitung der Kooperative Sisifo übertragen – der gleichen Kooperative, die mit dem Skandal um das Lager auf Lampedusa auffiel, in dem Neuankömmlinge nackt auf dem Hof desinfiziert wurden.
Für Sisifo ist Mineo ein tolles Geschäft: 30 Euro täglich erhält die Kooperative für jeden Flüchtling, stellt dafür schlechtes Essen und gegen null tendierende Betreuung zur Verfügung. Fernab der Zivilisation – Mineo ist 10 Kilometer entfernt – schlagen die Menschen mehr schlecht als recht die Zeit tot, warten monatelang auf ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Dabei ist der Verbleib in einem „Aufnahmezentrum für Asylbewerber und Flüchtlinge“ eigentlich auf 35 Tage beschränkt.
Doch wenn sie einmal ihre Papiere bekommen haben, wird ihre Lage oft genug nicht besser – dann nämlich stehen sie auf der Straße, ohne jede staatliche Unterstützung. Deutsche Verwaltungsgerichte weigern sich zunehmend, aus Italien eingereiste Flüchtlinge wieder zurückzuschicken, weil dort selbst ihre elementarsten Menschenrechte nicht gewährleistet seien. In Rom zum Beispiel leben etwa 2.500 Eritreer, Sudanesen oder Afghanen in besetzten Häusern, Schulen oder Bürogebäuden, weil sie sonst keine Unterkunft hätten.
Doch es geht auch völlig anders. Villaggio La Brocchi in der Toskana, 30 Kilometer nördlich von Florenz. Sechs Flüchtlingsfamilien sind hier in einer einladenden Villa mitten im Grünen untergebracht. Der Träger des Progetto Accoglienza, zu Deutsch Projekt Aufnahme, ist ein Verein. „Wir haben 50 Mitglieder, 30 von ihnen sind auch ehrenamtlich in der Einrichtung aktiv“, berichtet der Vorsitzende, Luigi Andreini. Dazu kommen 13 Angestellte, die sich um vier alleinstehende Mütter mit ihren Kindern, dazu zwei Familien kümmern. Von Rechtsberatung im Asylverfahren über Sprach- und Berufseingliederungskurse zur gesundheitlichen Versorgung und schließlich zur Hilfe bei der Suche einer regulären Wohnung wird alles gestellt. „Wenn es nötig ist, zahlen wir auch die Kaution für die Wohnung“, erläutert Andreini.
Einrichtungen wie das Progetto Accoglienza sind in Italien typisch für die Flüchtlingspolitik, die funktioniert. Die dezentrale Aufnahme in kleinen Unterkünften wird über das Programm SPRAR („Schutzsystem für Asylbewerber und Flüchtlinge“) organisiert. Die Träger vor Ort sind meist karitative Organisationen.
Auch der CIR, der Italienische Flüchtlingsrat, unterhält eine SPRAR-Einrichtung, in Verona, wo die Flüchtlinge direkt in Privatwohnungen untergebracht werden. „Das ist schon der erste Schritt zur Integration“, bilanziert Christopher Hein, Direktor des CIR. Für ihn war die Aufstockung der bisher bloß 3.500 landesweiten SPRAR-Plätze auf 13.000 im Jahr 2014 dringend notwendig.
Aber so verrückt es klingt: Das bestehende Kontingent wird gar nicht ausgeschöpft. Luigi Andreini vom Villaggio La Brocchi nennt Zahlen. Eigentlich hält er neben den 22 regulären noch 8 Pufferplätze in seiner Einrichtung bereit, „doch die sind momentan frei, weil der Staat die nötigen Budgetmittel nicht freigegeben hat“. Andreini vermutet System hinter dem Chaos. „Dahinter steht womöglich die Hoffnung, dass die Menschen schnell weiterziehen, in andere Länder.“
Von der Panikmache des Innenministers hält Hein zwar nichts – doch natürlich sei der Anstieg der Flüchtlingszahlen unverkennbar. „Kein Wunder“, schließt Hein, „diese Jahr sind die Syrer die größte Gruppe – eine Gruppe, die vor einem Jahr noch gar nicht präsent war.“