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Archiv-Artikel

„Die Frage nach Gerechtigkeit ist sekundär“

Der Erfolg des Films „Esmas Geheimnis“ hat die Unterstützung für Kriegsvergewaltigungsopfer in Bosnien befördert. Heute stehen dort häusliche Gewalt und Zwangsprostitution auf der Agenda, sagt die Psychologin Marijana Senjak

taz: Frau Senjak, bei der Berlinale wurde der bosnische Film „Esmas Geheimnis“ im Februar mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet: Er handelt von einer Frau, deren Tochter aus einer Vergewaltigung im Krieg hervorgegangen ist. Im Sommer hat das bosnische Parlament den rechtlichen Status von solchen Frauen verbessert. Gab es zwischen diesen beiden Ereignissen einen Zusammenhang?

Marijana Senjak: Ja, der internationale Erfolg von „Esmas Geheimnis“ war letztlich der entscheidende Faktor dafür, dass Vergewaltigungsopfer heute in Bosnien-Herzegowina den zivilrechtlichen Status von Kriegsversehrten erhalten haben und eine Kriegsrente beantragen können.

Seit sechs Jahren haben wir für die Anerkennung von vergewaltigten Frauen als Kriegsopfer gekämpft, und mit der Regisseurin Jasmila Žbanić hatten wir schon vor der Berlinale eine weitere Kampagne geplant. Durch den Goldenen Bären hat dann alles eine ganz andere Dimension bekommen. Innerhalb von vier Monaten haben rund 100.000 Menschen den Film gesehen: Für ein so kleines Land wie Bosnien ist das ziemlich viel. Wir haben an den Kinokassen Flugblätter verteilt und so insgesamt 50.000 Unterschriften für unsere Petition gesammelt.

Wie viele Vergewaltigungsopfer wurden bereits anerkannt?

Etwa 3.000. Das ist nicht allzu viel. Aber entscheidend ist, dass für sie nun grundsätzlich die Möglichkeit besteht, eine solche Kriegsversehrtenrente zu beantragen.

Wie hoch ist die Summe?

Maximal können sie rund 250 Euro im Monat bekommen, je nach Ausmaß des erlittenen Schadens. Doch bislang hat niemand die volle Summe zugestanden bekommen, und natürlich kann man davon überhaupt nicht leben. Insofern hat das Gesetz vor allem symbolischen Wert.

Ursprünglich hatte das Parlament nur etwas weniger als die Hälfte der Höchstsumme als Kompensation vorgeschlagen. Wir konnten immerhin durchsetzen, dass die Rente an die der männlichen Kriegsversehrten angepasst wurde. Und wir hoffen natürlich, dass die Unterstützung für diese Frauen zunimmt, nachdem nun endlich ihr rechtlicher Status anerkannt wurde.

Lassen sich psychische Schäden denn einfach so messen wie physische?

Entsprechend ausgebildete Ärzte können den Grad der Traumatisierung nachweisen. Gerade die Langzeitfolgen können jetzt erst ermessen werden.

Vergewaltigungen im Krieg wurden mittlerweile als Kriegsverbrechen anerkannt, aber noch nicht als Asylgrund.

Ich glaube aber, dass das bald kommen wird. Seit zwanzig Jahren wird dafür gekämpft: Lange wird sich das nicht mehr hinauszögern lassen.

Wie stellt sich in Bosnien, zehn Jahre nach dem Krieg, die Diskussion um vergewaltigte Frauen dar? Ist man offen für das Thema, oder werden die betroffenen Frauen als „geschändet“ stigmatisiert?

Das ist nicht so leicht zu beantworten. Einerseits haben wir uns von „Medico Mundiale“ immer dafür eingesetzt, dass Vergewaltigung nicht als sexuelle Gewalt schöngeredet, sondern beim Namen genannt wird. Andererseits möchten wir jede Stigmatisierung von Frauen vermeiden. Deshalb heißt unser Zentrum auch „Therapiezentrum für Frauen“: So bleibt es offen, ob die Frauen wegen Kriegstraumata unsere Hilfe suchen oder wegen der Erfahrung von häuslicher Gewalt.

Es gibt in der Öffentlichkeit aber durchaus eine Sensibilisierung. 1993, also noch während des Krieges, hat der oberste Imam der islamischen Gemeinde in Bosnien eine Fatwa ausgegeben, in der er verlautbarte, dass vergewaltigte Frauen keine Schuld trifft und dass Kinder, die aus einer Vergewaltigung entstehen, Muslime und damit vollwertige Mitglieder der islamischen Gesellschaft sind. Das war ein ganz wichtiges Statement.

Auf der praktischen Ebene allerdings ist nichts passiert: Der Krieg hat sämtliche staatlichen Strukturen zerstört, de facto war der Staat aufgelöst. Eine wichtige Rolle spielte aber auch, dass viele bosnische Männer in den Lagern selbst Opfer von Folter und sexuellem Missbrauch geworden sind. Sie haben am eigenen Leib erfahren, dass man sich nicht wehren konnte. Insofern war ihnen klar, dass auch die Frauen keine Chance hatten.

Die Debatte um Vergewaltigungsopfer dreht sich in Bosnien vorwiegend um medizinische Fragen, weniger um Gerechtigkeit. Warum?

Für die meisten Überlebenden hat es absolute Priorität, das eigene Leben zu retten und wieder neu zu ordnen: Es geht darum, wieder Kontakt zur Familie sowie zu Freunden aufzunehmen und zur Normalität zurückzufinden. Nur ein normales Leben macht dich wieder normal. Die Frage nach Gerechtigkeit und Wahrheit kommt erst später, sie ist sekundär. In Bosnien wird sie erst jetzt, elf Jahre nach Ende des Krieges, allmählich aufgeworfen.

In Ihrer therapeutische Arbeit ist es zentral, das Thema Vergewaltigung von der Sexualität zu trennen und in Zusammenhang mit Tod und Todesangst zu stellen. Warum ist dieser Zusammenhang in der Öffentlichkeit so schwer zu vermitteln?

Ein Trauma ist per Definition die Konfrontation mit dem Tod: Egal, ob die Frauen direkt mit einer Waffe bedroht wurden oder ob man ihnen sagte, bei Ungehorsam würden sie oder ihre Kinder ermordet – die konkrete Verbindung einer Vergewaltigung mit dem Tod ist ganz einfach da. Dass sie in der Öffentlichkeit weniger gesehen wird, hängt wohl damit zusammen, dass die Verbindung von Sexualität und Gewalt für einen patriarchalen Diskurs fundamental ist. Auch vor Gericht konzentriert man sich bei Vergewaltigungsdelikten oft auf die Sexualität und die Frage, ob die Frau das nicht vielleicht doch selbst gewollt hat: Das ist die männliche Sichtweise, die hier immer noch vorherrscht.

Stellen im Krieg vergewaltigte Frauen noch immer die Mehrheit der Klientinnen, die in Ihr Therapiezentrum kommen?

Nein. Wie in allen Nachkriegsgesellschaften hat auch in Bosnien die sogenannte häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen zugenommen. Insofern betreuen wir heute mehr Opfer von Gewalt innerhalb der Familien als Überlebende der systematischen Vergewaltigungen während des Krieges. Und im Gegensatz zu einer gewissen Solidarität, die es damals mit den Opfern dieser Vergewaltigungen gab, fehlt gegenwärtig ein Verständnis für die Frauen und Mädchen, die von ihren Männern oder Vätern geschlagen oder missbraucht werden. Das ist bei uns jetzt so wie überall auf der Welt.

Bosnien-Herzegowina steht noch immer unter dem Protektorat der UN. Welche Rolle spielt die Internationale Gemeinschaft in dieser Frage?

Der Hohe Repräsentant, Christian Schwarz-Schilling, hat unsere Forderungen mit einem offiziellen Brief unterstützt. Gleichzeitig haben sich der Frauenhandel und die Zwangsprostitution, die heute ein großes Problem darstellen, erst während der Präsenz der Internationalen Gemeinschaft entwickelt. Der Hauptgrund für den Handel mit Frauen ist die enorme Armut in Bosnien. Indem ein Mann Frauen zur Prostitution zwingt, kann er in kürzester Zeit sehr viel Geld verdienen, ohne dabei irgendein Risiko einzugehen.

INTERVIEW: INES KAPPERT