: Die Jugend will das Schweigen brechen
Aus SANTIAGO DE CHILE COSIMA SCHMITT
Es war ihr Tag der Rache. Sie schrien in Megafone und stemmten Schwarzweißbilder des Sängers in die Höhe: einen lächelnden Victor Jara, aufgeklebt auf braune Wellpappe. Frauen im bauchfreien Top, Studenten mit lockigem Langhaar. Sie rannten vorbei an Wachmännern und einem verdutzten Portier, hinein in das Büro des Mannes, den sie für einen Unmenschen halten: für den Mann, der 1973 Jara zu Tode foltern ließ.
„Funa“ nennen die jungen Chilenen ihre Aktionen – abgeleitet von einem Slangausdruck für „anprangern“. Auch die Bewegung wird so genannt. Menschenrechtsbewegte durchforsten Archive und befragen Zeugen. Sind sie überzeugt, einen einstigen Diktaturgehilfen ausgemacht zu haben, brandmarken sie ihn öffentlich. Sie postieren sich vor seiner Haustür oder suchen ihn an seinem Arbeitsplatz auf.
Wie an jenem Morgen Edwin Dimter Bianchi im chilenischen Arbeitsministerium. Die Funa-Truppe stößt die Tür auf. Aus dem Ghettobluster dringen Hiphopklänge. Aus den Mündern Worte des Vorwurfs. Er solle doch zugeben, dass er ein Folterer sei. Bianchi versteckt sein Gesicht hinter einem Blatt Papier. „Solange es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Funa!“, schreien die ungebetenen Gäste und richten den Fotoapparat auf den erbleichten Mann.
Funa sieht sich als Hüter der Moral in einem zögerlichen Staat. Noch immer müssen Pinochets Helfer kaum Strafen fürchten, eine 1990 erlassene Generalamnestie schützt sie. „Wir wollen sie wenigstens vor Kollegen und Nachbarn bloßstellen“, erklären die Funa-Anführer. Bestätigte sich der Verdacht, dass Edwin Dimter am Tod Jaras zumindest mitschuldig ist – es wäre ihr bisher größter Coup. Denn Jara war eine Ikone des politischen Chansons. In den 70ern lauschten Millionen seinen Lieder, in chilenischen Wellblechhütten wie in deutschen Studenten-WGs. Jara wollte ein Land herbeisingen, in dem auch Arme Fleisch auf dem Teller haben. Zur Gitarre pries er die Sozialistische Partei. Nach dem Militärputsch im September 1973 aber verhafteten ihn Pinochets Schergen. Sie brachen ihm alle Finger und zerschossen seinen Leib. Zwar trägt heute die einstige Folterstätte im Zentrum Santiagos Jaras Namen; seine Peiniger aber blieben nahezu unbehelligt.
Ein juristische Praxis, die nicht nur Funa-Aktivisten kritisieren. Sie sind lediglich ein radikaler Teil einer Strömung, die derzeit vielerorts in den Schulen und Unis, Clubs und Kneipen spürbar ist: Chiles Jugend rebelliert. Sie findet nicht, dass schweigen wichtiger ist als aufklären. Sie will, dass sich das Land seinen Untaten stellt. Und sie hat viele Unterstützer.
„Schon 13-Jährige sind politisch, kritisch, engagiert. So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Rodrigo del Villar, Präsident des Friedensparks Villa Grimaldi, einer Gedenkstätte auf dem Gelände des berüchtigtsten Folterknasts der Militärdiktatur. Wer den Friedenspark aufsucht, ahnt, wie schwer dem Land das Erinnern fällt. Kein Schild weist Auswärtigen den Weg. Putz bröckelt vom Eingangsportal. Wo einst Zellen standen, wachsen heute Büsche und Blumen. Nur einige Exhäftlinge um del Villar arbeiten gegen das Vergessen an. In freien Stunden führen sie Gäste durch den Friedenspark Villa Grimaldi.
Etwa jene Schüler aus einer nahen Kleinstadt, die sich heute Vormittag um del Villar scharen. Die Teenager haben die Handys ausgeschaltet, Notizblöcke gezückt. Keiner tuschelt. Keiner gähnt. Die Jugendlichen lauschen, grübeln, haken nach. Ob del Villar findet, dass sich der Staat ernsthaft bemüht, die Schicksale der Verschwundenen aufzuklären, fragt die Schülerin Nadia Rodríguez. Ob es richtig sei, dass ehemalige Folterer unbehelligt in ihren Vorstadtvillen leben. Kritische Fragen. Gute Fragen, findet del Villar. „Die Jugend heute ist anders als ihre Vorgänger. Sie fordert die offene Diskussion.“ So sieht es auch Nadia: „Uns fällt es leichter, diese Fragen zu stellen. Wir waren nicht selbst verwickelt. Und wir finden es seltsam, wenn uns die Älteren vom Alltagsleben oder von Festen aus der Vergangenheit erzählen – aber nie von der Politik.“
Del Villar hat lange gewartet auf solche Zeichen des Umdenkens. Sein halbes Leben verbrachte er in einer Gesellschaft, die von „nach vorne sehen“ redet und von „der Notwendigkeit, zu vergessen“. Als ob Opfer wie er all das so einfach verdrängen könnten. Die Schreie. Die Elektroschocks. Die Frauen, die weinten, im Bauch das Kind eines Vergewaltigers. Die Freunde, die verschwanden, in einen Sack verschnürt und im Ozean versenkt. „Wie sollen wir unseren Kindern klarmachen, dass schon ein Diebstahl ein Verbrechen ist, wenn sie erleben: Hier haben Menschen gemordet – und kommen ungestraft davon?“
Als sich der Militärgeneral Augusto Pinochet 1973 an die Macht putschte, ließ er Tausende verhaften. Wer sich zum sozialistischen Präsidenten Salvador Allende bekannt hatte, musste nun Folter und Tod fürchten. Mindestens 3.000 Menschen starben. Viele endeten in Äcker verscharrt oder im Meer ertränkt. Erst in den 80ern begann das Militär, den Familien wenigstens die Leichen auszuhändigen. Doch bis heute sind hunderte Schicksale ungeklärt.
Del Villar und seine Mitstreiter wollen die Opfer zumindest vor dem Vergessen bewahren. Sie haben eine Mauer errichtet, die Namen der Toten in den Stein graviert und den berüchtigten „Turm“ nachgebaut: einen alten Wasserspeicher, in dem Wärter die halbtot Gemarterten abluden. „Im Turm gab’s keine Schläge mehr. Die Leute dachten, sie hätten die Hölle hinter sich gelassen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Militärs sie hier nur noch rausholen würden, um sie zu erschießen.“
Del Villar hält nichts davon, Teenagern die Geschichte schönzureden. „Wer ‚verzeihen können‘ sagt, meint ja eigentlich ‚verdrängen‘. Die Menschen wollen nicht wahrhaben, zu welcher Barbarei ihre Nachbarn fähig waren.“
Das Nicht-so-genau-wissen-Wollen hat in Chile Tradition. Dass dank der Generalamnestie, die Pinochet durchsetzte, viele Anhänger der Diktatur weiterwirkten, war der Kompromiss, den die junge Demokratie hinnahm. Bis heute weicht die Regierung nicht grundlegend von diesem Kurs ab. Seit März aber regiert mit Michelle Bachelet erstmals ein Mensch das Land, der ebenso wie seine Eltern im Foltergefängnis gelitten hat – und dessen Leben das verändert hat: Bachelets Vater starb in der Haft, Michelle und ihre Mutter flohen ins Exil.
So wagt jetzt die Tochter den Bruch mit der Tradition des Schweigens: Am Samstag betrat Michelle Bachelet den Friedenspark Villa Grimaldi. Flankiert von Botschaftern und TV-Kameras, kehrte sie zurück an den Ort, wo sie vor rund 30 Jahren als Häftling einsaß. Die Villa Grimaldi sei eine Stätte „gegen das Vergessen, an der heute lachende Kinder in den Armen ihrer Eltern ein und aus gehen können“, sagte die Präsidentin. Sie wolle „alles dafür tun“, dass sich ein solches Leid wie in der Villa Grimaldi in ihrem Land nie mehr wiederhole.
Für del Villar ist der Besuch „eine kleine Sensation“. Seit Jahren schon lädt er Chiles Präsidenten in den Friedenspark ein. Doch die Bitten blieben unerhört. Bachelet ist das erste Staatsoberhaupt, das die Gedenkstätte betrat. Nun hofft nicht nur del Villar, dass die Präsidentin neue Maßstäbe setzt.
„Das ist ein Quantensprung“, sagt etwa Viviana Díaz, Leiterin der Interessengemeinschaft von Angehörigen verschwundener Gefangener. Díaz sitzt in ihrem Büro in Santiagos Innenstadt und versinkt hinter Aktenbergen. Briefe auf dem Schreibtisch, Ordner im Regal. Aus der Schublade zieht sie ein Foto, das Gesicht eines Mannes hinter wasserfestem Kunststoff. „Das ist mein Vater. Er war sieben Monate im ‚Turm‘. Danach verliert sich seine Spur“, sagt Viviana Díaz und klemmt sich das Bild an die Bluse. „Das Foto trage ich immer, wenn ich öffentlich auftrete. Die Leute sollen sehen, dass es hier um einen Menschen geht und nicht um eine Nummer in einer Akte.“ „Das Gesicht der Menschenrechte in Chile“ nennen viele Díaz respektvoll. Ihr halbes Leben hat sie gekämpft, wollte Schicksale klären und Täter benennen. Sie ist grau darüber geworden. Über Jahrzehnte habe sich die Gesellschaft nicht einmal eingestehen wollen, dass es Verschwundene gegeben hat. „Nun aber signalisiert die Präsidentin: Ja, ihr habt recht mit euren Vorwürfen, ja, der Staat könnte mehr tun.“ Die Chancen stehen gut für einen Gesinnungswandel, sagt Díaz: „Es stellen sich ja jetzt auch immer mehr junge Leute hinter unsere Sache.“
Warum aber ist das so? Diese Kinder, die aufwachsen in einem Chile der Hightechhandys und amerikanisch inspirierten Warenvielfalt – warum sind sie so politisch?
„Wir erleben gerade eine Zeitenwende“, meint Jorge Rojas, Professor für Soziologie an der Universität der Hafenstadt Concepción. Die älteren Chilenen plagten Zweifel, ob die Demokratie mehr ist als eine Episode, seien skeptisch, dass vom Volk gewählte Staatslenker auch wirklich das Volkswohl wollen. Verschüchtert und desillusioniert hätten sie sich ins Private zurückgezogen. Anders die Jugend. „Sie hat Mut, sie glaubt an sich selbst. Sie will die Gesellschaft gestalten und eigene Werte durchsetzen.“
So hegt jetzt auch Rodrigo del Villar ehrgeizige Pläne. Er steht im Villa-Grimaldi-Park, schaut hinaus auf den Großstadtverkehr und verkündet seine Vision. „Ich hätte so gern ein richtiges Museum, mit einer Dokumentationsstelle, die Forscher aus aller Welt anlockt.“ Noch aber hat die Gedenkstätte nicht einmal einen festen Etat. Sie lebt vom Idealismus der Freiwilligen. Doch das könnte sich nun ändern. „Vielleicht haben wir bald auch eine Erinnerungskultur wie in Deutschland, mit angemessenen Gedenkstätten, die der Staat finanziert. Die Jugend schreitet voran – und zieht die Präsidentin mit.“