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Archiv-Artikel

Gespür für Gleichzeitigkeiten

Porträt der Stadt um drei Uhr morgens: In der Ausstellung „Berlin, Nachtausgabe“ zeigen Studenten der UdK einen Ort des fahlen Neonlichts und der Melancholie

Es sind sehr unspektakuläre Fotos der Nacht, die im Designtransfer der UdK zu sehen sind: ein Blick in das Schlaflabor der Charité, in dem ein mit Elektroden verkabelter Albtraumpatient schnarcht. Eine Nachtapotheke, in der um 23 Uhr, nachdem der vorläufig letzte Kunde nach Schmerzmittel verlangt hat, ein Schlafsack ausgerollt wird. Oder ein gelangweilter Polizist im Streifenwagen. „Nüscht los heute“, scheint er in sein Funkgerät zu murmeln.

Wer oder was hält Berlin nachts am Leben? Diese Frage haben sich im letzten Wintersemester Studenten der Klasse Informationsgestaltung der UdK gestellt und daraufhin versucht, mit Bildreportagen, kurzen Texten und ein paar Zahlen aus der Statistik ein Porträt vom nächtlichen Berlin zu malen, das man so nicht kennt.

Dass in der Clubszene der Stadt regelmäßig die Nacht zum Tag gemacht wird, setzen sie als bekannt und ausreichend dokumentiert voraus. Stattdessen interessieren sie sich in „Berlin, Nachtausgabe“ für den erst mal weit weniger spannend scheinenden, rund um die Uhr fast unbemerkt schnurrenden Versorgungs-, Instandhaltungs- und Überwachungs-Backbone der Stadt. In Bäckereien, Druckereien und Wäschereien ha- ben sie fotografiert – früh morgens.

Zusammengetragen wurde so ein Bildband, der die Stadt und ihre Bewohner ausschließlich im Neonlicht zeigt. Ein ungewohnt melancholisches Berlin. Nicht nur wegen der Beleuchtung: Die Nacht- und Schichtarbeiter, die auf den Fotografien zu sehen sind, gehen ihren Jobs wortkarg nach. Glücklich sehen sie nicht aus.

Das Layout des 70 Episoden starken „Berlin, Nachtausgabe“-Bandes offenbart dabei auch ein Gespür für die Gleichzeitigkeiten und Hierarchien der Nacht: Auf einer Doppelseite sieht man ein Bild aus einer Bar, in der man sich zuprostet und flirtet. Es ist drei Uhr morgens. Weiter oben, auf einer Aufnahme aus einem Blumengroßmarkt, sortiert eine alte Frau die Berge Schnittblumen, mit denen sich die frisch Verliebten in wenigen Stunden beschenken werden.

Nicht immer einleuchten will indes, dass die Studenten zwischendurch Gedanken des Schweizer Soziologen und Designtheoretikers Lucius Burckhardt (1925–2003) zitieren: „Wenn Auswanderung nicht mehr möglich ist, so kann die steigende Dichte der städtischen Bevölkerung immer noch dadurch gesenkt werden, dass nicht alle Bewohner gleichzeitig wach sind“, lassen sie ihn voraussagen – was angesichts dessen, dass Berlin noch längst nicht die klaustrophobische Hektik echter 24-Stunden-Megacities erreicht hat, doch etwas übertrieben scheint.

Dennoch ist „Berlin, Nachtausgabe“ eine sehenswerte Ausstellung. Mit einer Einschränkung: Sie sollte nicht zu viele Besucher gleichzeitig anlocken. Lediglich drei der vorerst nicht im größeren Maßstab verlegten „Berlin, Nachtausgabe“-Bände liegen im Designtransfer zum Durchblättern bereit. Bei erhöhtem Besucheraufkommen dürfte es also heißen: Schlange stehen.

JAN KEDVES

Bis 3. November, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Designtransfer, Einsteinufer 43–53