: Auf einen langen Atem setzen
VOR DEM REICHSTAG Demonstrieren, intervenieren, Sponsoren suchen: Zwei Künstlerinnen aus Berlin und Leipzig wollen mit ihrem Projekt „Systemfehler_Neustart“ ein Modell für direkte Demokratie ausprobieren
VON TOM MUSTROPH
Wenn die Welt ein Computer wäre, wäre vieles einfach. Blockieren sich verschiedene Programmkomponenten, muss man nur den Restart-Button drücken. Dann erlischt der Bildschirm. Langsam fährt das System wieder hoch und arbeitet makellos weiter.
Diese Reparaturvision überträgt derzeit das Kunstprojekt „Systemfehler_Neustart“ auf die Gesellschaft – und erfährt in den Bereichen von Diagnose (Systemfehler) und Lösung (Neustart) Zustimmung. Zumindest von Teilnehmern von Demonstrationen, bei denen sie das weiße Transparent mit blauen Schriftzug entrollen. „Unser Transparent passt auf jede Demonstration. Das ist wunderbar und tragisch zugleich“, erzählt die Berliner Konzeptkünstlerin Ute Z. Würfel, die gemeinsam mit der Leipziger Malerin Verena Landau das Projekt initiiert hat.
Solcherart punktuelle Interventionen, wie etwa bei der Berliner Großdemo gegen Atomkraft, Hartz-IV-Protesten und der Hauptversammlung von Daimler sind nur ein Anfang. Das eigentliche Ziel besteht darin, am Reichstag und vor dem Brandenburger Tor eine Infrastruktur zum Erarbeiten von Alternativen zu installieren.
Rohrpost in den Bundestag
Vor dem Reichstag, direkt gegenüber der Inschrift „Dem deutschen Volke“, soll ein gläserner Kubus mit 8 Meter Kantenlänge errichtet werden, der unter anderem das „Büro für systemimmanente Fragestellungen“ beherbergt. „Dort können Anträge aus der Bevölkerung formuliert und durch ein ausgeklügeltes Rohrpostsystem direkt in den Plenarsaal des benachbarten Bundestages geschickt werden“, erläutert Würfel und breitet Zeichnungen zum Verlauf der Rohrpost über die Außenfassade bis hin zur Kuppel aus. Auf der Innenseite der Kuppel soll die durchsichtige Plexiglasröhre sich dann spriralförmig herabsenken und im Plenarsaal des Bundestags enden.
Ein Ingenieur hat das Material getestet und ein Physiker die Windungen der Röhre berechnet. Über Verena Landaus Gesicht fliegt ein strahlenden Lachen, wenn sie sich vorstellt, wie die Kapseln, die die Vorschläge der Bevölkerung enthalten, in die Festung des Reichstages hereindringen. „Das ist ein transparentes Gebilde direkter Demokratie“, meint sie. Möglichen Bedenken – die sich anlässlich der jüngsten Auftritte griechischer und jemenitischer Anbieter im Paketversand verschärft haben dürften – wollen die Künstlerinnen mit zwei Sicherheitsschleusen entgegenwirken.
Zweites architektonisches Element ist die Platine, ein Veranstaltungshaus, das von den Wilk-Salinas Architekten (unter anderem am Berliner Badeschiff beteiligt) auf den Pariser Platz gestellt werden soll. 92 Tage Programm mit ca. 276 Akteuren sind hier geplant. Als zentrales Thema kristallisiert sich prekäre Beschäftigung heraus. Ute Würfel betont: „Das bedingungslose Grundeinkommen für alle ist für uns einer der wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft.“
Innerhalb des Projekts hat sich in dieser Hinsicht schon einiges bewegt. Alle haben sich auf einen Einheitslohn von 25 Euro pro Stunde geeinigt. Ein Auftragsgeber für künstlerische Projekte hat sich, als er mit „Systemfehler_Neustart“ konfrontiert wurde, anregen lassen, erstmals Honorare zu zahlen. Es überzeugt, wenn jemand auch innerhalb des eigenen Umfelds den Maßstäben gerecht wird, die er allgemein einfordert.
Gespräche über Geld
Zur Realisierung von „Systemfehler_Neustart“ sind ca. 2 Millionen Euro nötig. Sponsorengespräche laufen. Jeden Geldgeber würden die Künstlerinnen aber nicht nehmen. „Mit einem Unternehmen, das für besonders schlechte Arbeitsbedingungen bekannt ist, würde ich nicht zusammenarbeiten wollen“, schränkt Landau, die sich mit dezidiert konzernkritischer Kunst (so bei der Ausstellung „Macht zeigen“ im DHM) einen Namen gemacht hat, ein. Würfel rechnet damit, dass sich im Verlauf der Gespräche ohnehin herausstelle, wer passe. Daimler passt nicht. Den Stuttgarter Autobauern mussten die Künstlerinnen zum Ende der Korrespondenz einen Absagebrief übermitteln. Das setzt Maßstäbe.
Um den Herrn über die Bannmeile, Bundestagspräsident Norbert Lammert, von ihrem Projekt zu überzeugen, planen die Künstlerinnen eine 1.000er Auflage ihres Projektbuchs, von der je ein Exemplar an jeden einzelnen der 622 Bundestagsabgeordneten gehen soll. Lammert leitete einen ersten Antrag an die Beauftrage für Kunst und Kultur des Bundestags weiter, die es ihrerseits ablehnte. Doch die Initiatorinnen machen unbeirrt weiter und stellen ihr Projekt zurzeit in Leipzig im Forum für Wissenschaft und Kunst vor.
„Es braucht natürlich einen langen Atem“, sagt Verena Landau. Würfel und Landau wissen sich aber auch auf einer Spur, die andere vor ihnen bereits erfolgreich beschritten: „Christo und Jeanne-Claude haben 25 Jahre daran gearbeitet, den Reichstag zu verhüllen“, meint sie. Das klingt fast wie eine Drohung an die Protagonisten der nächsten fünf Legislaturperioden. Recht so!
■ „Systemfehler_Neustart“. Exposé: www.froehlicher-untergrund.de