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Archiv-Artikel

Dem Pathos nicht widerstanden

AUSDRUCKSTANZ Fließende Falten und gedehnte Rippen: „Continu“, das neue Stück von Sasha Waltz im Haus der Berliner Festspiele lädt sämtliche Gesten dramatisch auf. Doch gibt es einen Grund für die große Expression?

Große Gefühle und tragische Figuren kommen wie aus dem Nichts auf uns, wie Geister aus Sammlungen der Antike, wie Gespenster der Oper

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Als Sasha Waltz mit einem großen Ensemble von Musikern und Tänzern im April 2009 das Neue Museum auf der Museumsinsel mit einer großartigen Performance eröffnete, da schien der Gestus des Archaischen und Antikischen in Solos und Ensembleszenen eine geniale Verbeugung vor dem Genius Loci. Bevor Nofretete, bevor Statuen antiker Götter und andere kultische Zeugnisse in die Säle und Galerien einzogen, stellten sich die Tänzer dem Echo verschiedener Zeiten, das in dem Museum allein schon durch die Architektur und das Dekor des Historismus präsent ist.

Gegen Ende 2009 eröffnete die Choreografin mit ihren Tänzern ein zweites Museum, das MAXXI in Rom, eine gekurvte und bewegte Raumfolge von der Architektin Zaha Hadid. Ihr neustes Stück, „Continu“, nimmt auf diese beiden Projekte Bezug. Ihr Ensemble Sasha Waltz & Guests, zu dem für die Raumerkundungen viele Tänzer hinzugekommen waren, ist wieder auf 24 TänzerInnen erweitert. Im Juni 2010 kam „Continu“ im Schiffbau in Zürich heraus und wird jetzt im Haus der Berliner Festspiele aufgeführt.

Das Verblüffende ist: Über den Umweg der Arbeit in den Museen ist Sasha Waltz zum Ausdruckstanz zurückgekehrt, dem German Dance der frühen Moderne, einem wilden Expressionismus. „Continu“ scheint in vielen Ensembleszenen, wenn Männer und Frauen stampfend auseinanderstreben und in weiten Bögen sich umkreisen, Strawinskys „Sacre du Printemps“ und dessen Interpretation von Pina Bausch 1975 mindestens so nahe wie Waltz eigenen Stücken. Die fließenden Falten der langen Tanzkleider, die tribalistischen Strukturen im Wogen der Massen, die dramatische Aufladung in vielen Gesten, das ungebrochene Pathos der Bewegungssprache: So, stelle ich mir vor, würde heute auch Mary Wigman choreografieren.

Der Bühnenraum ist streng, von schwarzen, fast spiegelnden Wänden begrenzt, mit einem weißen Tanzteppich zuerst, dann mit einem schwarzen ausgelegt. Auf dem weißen Grund gilt die Aufmerksamkeit noch mehr dem Detail, wie sich mit dem Atem die Rippen dehnen, wie sich Handflächen hoch und vorwärts schieben, wie Hände Füße umfassen und welche Zeichnungen damit auf der Fläche des Rückens entstehen. Der Zuschauer lernt gewissermaßen, sich erst in den Körper und dann in sein Verhältnis zum Raum einzusehen. Auf dem schwarzen Tanzteppich dann lassen die großen Aktionen für solche Genauigkeit keine Muße mehr.

Sasha Waltz hat sich für diese Arbeit eine Komposition von Edgar Varese ausgesucht, „Arcana“ von 1927, und tatsächlich gelingt ihr, wie sie als Ziel formulierte, dessen „ungeheure Wucht und Dynamik“ in „größtmögliche Abstraktion“ zu fassen. Sirenengeheul und zerklüftete Schlagzeugrhythmen sind nur zwei der Elemente, mit denen Varese unterschiedliche Zustände von Erregung übereinanderschob: eine komplexe und nicht einfach zu erfassende Komposition mit harten und nüchternen Konturen, die mit der Choreogafie von Sasha Waltz sehr anschaulich aufgeschlossen wird.

Motive jagen und formen

2008 hatte sie mit dem Komponisten Wolfgang Rihm zusammengearbeitet und für sein Stück „Jagden und Formen“ tänzerische Szenen entwickelt, die sehen und hören ließen, wie Musik und Tanz ihre Motive jagen und formen: Selten kommt man einem kreativen Prozess so nahe, selten versteht man die Logik und innere Notwendigkeit von Formwerdung so gut, wie in diesem Stück. „Continu“ gleicht dieser Arbeit in der Hingabe an die Musik, im Sichtbar-werden-Lassen ihrer Dynamik und auch konkret in vielen Bewegungsmotiven. Aber was „Continu“ fehlt, ist die Einsicht in die Notwendigkeit dieser großen Expression.

Große Gefühle und tragische Figuren kommen wie aus dem Nichts auf uns, wie Geister aus Sammlungen der Antike, wie Gespenster der Oper. Dieses Absehen von jeden sozialen oder kulturellen Anbindung wird umso merkwürdiger, je konkreter die Bilder werden. Am Ende steht das Bild einer Exekution, einer Massenerschießung, einfach so. Als ob jede Geschichte unvermeidlich auf eine Katastrophe am Ende hinausliefe.

■  „Continu“, bis 14. November im Haus der Berliner Festspiele