OHNE CHRISTENLEHRE
: Gans mit Klößen

„Zwölf Euro achtzig“, sagt die Kassiererin

Selbstbeherrschung ist so eine Sache. Dabei ist es doch wirklich schwer genug, in der Überflussgesellschaft herauszufinden, was man will. Da sollte sich die innere Anstandsdame doch freuen, wenn wir uns entschieden haben. Etwa für diese Packung Dominosteine, mit der ich gerade bei Aldi an der Kasse stehe.

Aber Mary Poppins hört nicht auf zu zetern: „Dominosteine“, kreischt sie, „ausgerechnet Dominosteine!“ Sie zieht das erste O in die Länge, dass es klingt wie ein Hilferuf: „Dooominosteine!“ Aber das täuscht. Miss Poppins braucht keine Hilfe, um mir die Leviten zu lesen. Immerhin hat sie fast dreißig Jahre Erfahrung damit. „Dominosteine Anfang November“, entrüstet sie sich, „ich dachte, wenigstens so viel Respekt hättest du noch vor dem heiligen Fest. Wo du schon nicht mehr zur Christenlehre gehst.“ Jetzt hat sie wieder diese Falte auf der Nasenwurzel. „Ich gehe seit 15 Jahren nicht mehr zur Christenlehre“, murmle ich trotzig. „Umso schlimmer“, erwidert Miss Poppins. „Ich bin sehr enttäuscht von dir“, sagt sie. Ich rücke in der Schlange ein Stück vor. „Das ist doch wie Gans mit Klößen zum Geburtstag und Ostern Stollen essen. Sünde!“ Sie stemmt die Arme in die Seiten. „Mama sagt jedes Jahr, wir sollten auch mal zwischendurch Gans mit Klößen machen“, verteidige ich mich. Die Miss wird weiß um die Nase vor Missachtung. „Ja und? Hat sie es jemals gemacht? Nein! Ich glaube nicht, dass deine Mutter gutheißen würde, was du hier tust.“ „Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel, Miss Poppins“, sage ich, „die hat nichts damit zu tun.“ „Ach nein?“, sagt das Fräulein schnippisch.

„Zwölf Euro achtzig“, sagt die Kassiererin. „Frollein!“, sagt das Fräulein drohend. Ich packe schnell die Ware ein. Ich lasse mir doch von einer eingebildeten Anstandsdame nicht vorschreiben, wann ich meine Dominosteine esse! „Das werden wir ja sehen“, murmelt Miss Poppins.

LEA STREISAND