: Beim Betrachten der einstigen Liebe
SPIELFILM In „Zärtlichkeit“ packt die belgische Regisseurin Marion Hänsel ein vor Jahren geschiedenes Ehepaar ins Auto
„Wir fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“ – diese melancholisch-monotonen Songzeilen von Kraftwerk hätten sehr gut zu den Bildern von Leitplanken, Mittelstreifen und endlosen Baumreihen gepasst. Über weite Strecken spielt Marion Hänsels neuer Film „Zärtlichkeit“ im Auto, es geht vom platten Belgien in die kurvigen französischen Alpen und wieder zurück.
Seit fünfzehn Jahren sind Jack und Lisa geschieden. Als sich der gemeinsame Sohn bei einem Skiunfall verletzt und keine Versicherung den Transport bezahlen will, beschließen sie, ihn gemeinsam mit dem Wagen abzuholen. Das klingt nach familientherapeutischem Roadmovie, doch obwohl hier etliche Kilometer zurückgelegt werden, geht es weniger um große, dramatische Bewegungen. Eher um die Bestandsaufnahme einer Beziehung. Man betrachtet ein einstiges Liebespaar beim Betrachten der einstigen Liebe: Was ist aus ihr geworden, und wie viel Gefühl ist noch da? Wie sieht man die geliebte Person heute? Und was verbindet die beiden noch, jenseits des gemeinsamen Sohns?
Angenehm entspannt inszeniert Marion Hänsel die Wiederbegegnung von Jack und Lisa auf engstem Raum. Das Auto wird gerade nicht zum Käfig, zum klaustrophobischen Ort, vielmehr zur Bühne eines Kammerspiels, in dem die Gegenwart schnell von der Vergangenheit eingeholt wird. Schon tauchen die alten Muster, Rollenspiele und Verhaltensweisen wieder auf. Wie einst schmiert sie die Brote, wie einst lässt sie vor der Abfahrt die Lichter in der Wohnung an, wie einst fährt er zu schnell. Das Schöne ist, dass sich die beiden ihrer Wiederholungszwänge schnell bewusst werden, bevor die damit verbundenen, manchmal eben auch negativen Gefühle sich wieder breitmachen können. Sie schaut ihn nach einem gefährlichen Überholmanöver an: „Ich gehe recht in der Annahme, dass ich nicht das Steuer übernehmen darf?“ Grinsendes Nicken. Vielleicht ist es diese schmunzelnde Selbsterkenntnis, die alte Sehnsüchte wieder aufflackern lässt, ganz zaghaft etwas zum Knistern bringt. Im überbuchten Skiort angekommen, gilt es dann, getrennte Betten zu finden und weiteren, intimeren Situationen auszuweichen.
Zugegeben, das klingt nach reißbrettmäßiger Dramaturgie. Zugegeben, die indifferente Kamera ist ermüdend. Sie lässt sich nicht auf die Gesichter ein, sucht stattdessen immer wieder die Weite. In den Alpen übersieht sie angesichts der sachlich-eleganten Betonbauten des Bauhaus-Architekten Marcel Breuer fast das Wiedersehen von Jack und Lisa mit ihrem Sohn und dessen Freundin. Während der Hin- und Rückfahrt geht allzu oft der Blick aus dem Auto heraus, gleitet über flache Landschaften, Tankstellen oder folgt den Fahrenden aus der Vogelperspektive. Man fragt sich, welche Perspektive die Regisseurin in diesen Momenten überhaupt einnimmt.
Es sind die beiden eher beiläufig agierenden Schauspieler, die mit ihrem minimalistischen Spiel wieder Spannung aufbauen. Sowohl Olivier Gourmet als auch Maryline Canto scheinen ihre Figuren beim Spiel selbst zu beobachten. Diese leichte Distanz bringt eine schöne Selbstironie mit sich. Man spürt, dass diese zwei Menschen ihre Fehler, Macken und Neurosen kennen, mit ihnen zu leben gelernt haben. Jack ist ein grantelnder Perfektionist mit präzisem Lebensplan. Lisa, die chaotische Exschauspielerin, bevorzugt hingegen einen improvisierten Lebensstil.
„Zärtlichkeit“ wird immer mehr ihr Film und damit zum Porträt einer unorthodoxen Frau, die schon immer eher ihren eigenen Gefühlen und Stimmungen gefolgt ist. Es mutet seltsam an, dass diese Frau die Tingeltangelmusik mögen soll, die aus dem Kassettenrekorder kommt. Da würden schon eher die hintersinnigen Songs von Kraftwerk passen. ANKE LEWEKE
■ „Zärtlichkeit“. Regie: Marion Hänsel. Mit Olivier Gourmet, Marilyne Canto, Sergi Lopez u. a. Belgien/Frankreich/Deutschland 2013, 82 Minuten