: Mama, Mimi, Sina und Emmi
AUS HAMBURG EIKEN BRUHN
Emmi war 19 Monate alt und Sina etwas über zwei Jahre, als sie endlich in eine normale Familie kamen. Mit Eltern, die sich lieb haben und für sie da sind, ihnen die Tortellini klein schneiden und „Essen kochen“ spielen. Die nicht ständig breit sind von Alkohol oder Tabletten oder Heroin wie ihre leiblichen Eltern. Ihre neuen Eltern haben Hobbys und Freunde und einen Beruf und wollen irgendwann heiraten. „Wegen der Kinder“ sind sie jetzt schon mal von Altona an den Stadtrand von Hamburg gezogen, und wenn sie erst ein Haus gebaut haben, bekommen sie vielleicht noch ein Geschwisterchen und Emmi den Hund, den sie sich so sehr wünscht.
Verena Klein will rund um die Uhr für die inzwischen viereinhalbjährige Sina und die sechsjährige Emmi da sein, deswegen hat sie Elternzeit genommen und sich im Kindergarten zur Elternvertreterin wählen lassen. Eine Vorzeigemama. „Normaler geht’s kaum noch“, sagt sie über ihre Familie. Wäre da nicht eine Kleinigkeit, nein zwei: Verena Klein ist erstens seit einem Autounfall vor zwölf Jahren querschnittsgelähmt. Und zweitens lesbisch. Sie und ihre Partnerin Andrea Vedder sind die Eltern der beiden Mädchen. Schwarz auf weiß steht das so auf dem Pflegenachweis von Emmi und Sina.
Verena heißt „Mama“ und Andrea „Mimi“, das hat sich Emmi so überlegt. „Viele Lesben reden vom Kinderkriegen, wir tun es“, sagt Mama und haut mit der Faust auf den Tisch. Und: „Wenn der Unfall nicht gewesen wäre, hätte ich jetzt schon große Kinder.“ Immer schon wollte die 42-Jährige Kinder haben, schwanger werden nie. Eine Adoption jedoch kam nicht in Frage: In Deutschland ist die Zahl der zur Adoption freigegebenen Babys so niedrig, dass selbst verheiratete heterosexuelle Paare in der Regel mehrere Jahre warten müssen. Lesben und Schwule, die nur als Einzelperson adoptieren dürfen, haben keine Chance.
Sich ein Kind im Ausland zur Adoption besorgen? Ein Baby aus seiner Kultur reißen? Und für die Vermittlung viel Geld bezahlen? „Wir wollten kein Kind kaufen“, sagt Verena Klein. „Wir wollten da anfangen, wo es uns betrifft.“
Ganz bewusst hat sich das Paar deshalb für Pflegekinder entschieden. Kinder wie Emmi und Sina, deren Eltern das Familiengericht ihr Sorgerecht entzieht, weil diese wegen ihrer Süchte und eigenen traumatischen Vergangenheit ihre Kinder nicht regelmäßig füttern und in ihrem Kot liegen lassen. Es sind traumatisierte Kinder. Emmi braucht noch eine Windel und Sina wacht jede Nacht brüllend auf. Aber das spielt für Verena und Andrea keine Rolle. Wichtig war ihnen nur, dass die Kinder nicht nach wenigen Monaten oder Jahren wieder zu den leiblichen Eltern zurückkehren, sondern bei ihnen bleiben werden. „Dauerpflege“ heißt diese Form der Unterbringung. Wenn kaum Hoffnung besteht, dass die Eltern ihr Leben wieder so weit in den Griff kriegen, dass sie für Kinder da sein können, wird sie vom Gericht angeordnet – im Unterschied zur Kurzzeitpflege.
Über ihren Beruf als Sozialarbeiterinnen hatten die beiden Frauen genug mit Leuten zu tun, die sie „Mehrfachbelastete“ nennen, sie wussten genau, was deren Kinder durchmachen. Die Entscheidung für Pflegekinder sei eine „sozialpolitische“ gewesen, sagt Verena Klein.
Davor lag allerdings eine emotionale Entscheidung, erzählt Andrea Vedder. „Wir haben darüber gesprochen, ob ich schwanger werden soll“, sagt die 41-Jährige, sie ist Verenas ehemalige Chefin. Kurz nachdem sie sich vor neun Jahren bei der Arbeit kennengelernt hatten, hatten sie sich „darüber verständigt“, dass sie Kinder wollen. Anders als Verena konnte sich Andrea die Schwangerschaft schon vorstellen, nicht aber die Zeugung. „Ich schlafe nicht mit Männern und will mir deshalb keinen Samen spritzen lassen“, sagt sie.
Probleme, weil sie offen als lesbische Eltern auftreten, hatten die beiden bisher nicht. „Seid ihr ein Paar?“, wurden sie auf dem ersten Elternabend gefragt. Verena und Andrea sagten ja, Fall erledigt. Auch Nachbarn, Kollegen, Eltern, Geschwister – alle reagieren, soweit sie das mit bekommen, vorurteilsfrei. Die Kinderärztin vergisst, dass Frau Klein nicht die leibliche Mutter ist, wenn sie Emmis dünne Arme und Beine auf die Gene zurückführt. Die Frau vom Amt, die als Emmis Vormund bestellt ist, sagt nur: „Na, Erziehung war ja schon immer Frauensache.“ Selbst die leiblichen Eltern haben sich nie beschwert. Benachteiligt? Sie, Verena Klein, Europameisterin im Rollstuhl-Basketball, Mutter zweier reizender Töchter, Geliebte einer wunderbaren Frau, Leiterin eines Sozialbetriebes? „Och nö.“
Andrea erinnert ihre Freundin daran, dass es nicht immer so glatt läuft. „Ach, das ist ja schön, dass Sie auf Emmi aufpassen“, wurde sie von einer Mutter gelobt, deren Kind neu im Kindergarten war. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen hatte, dass Andrea Mutter Nummer II ist. Und einmal habe Emmi irritiert erzählt, dass ein Junge – oder seine Mutter, das war aus dem Kind nicht herauszukriegen – zu ihr gesagt hatte, sie habe keine richtige Mutter.
„Kinder finden immer etwas, wie sie einander hänseln können“, sagt Verena. Man könne ihnen nur helfen, wenn man sie stark macht, ihnen zeigt, sich zu wehren. Und wie geht das? „Wir machen ihnen immer wieder klar, dass sie genau richtig sind, so wie sie sind.“ Sie sehen deshalb keinen Grund, irgendetwas zu verschweigen. Wie auch. Den Rollstuhl kann man auch nicht verstecken. Lasst die Leute gucken. Die Fußmatte vor der Haustür hat die Farben der Regenbogenflagge, einem schwullesbischen Symbol. Und am Auto klebt ein regenbogenfarbener Aufkleber „We are family“.
Ihre Töchter sind noch zu klein, um zu ahnen, dass nicht alle ihre Situation als so normal empfinden wie sie selbst. Sie wissen, dass manche Kinder mit Mama und Papa zusammenwohnen, manche nur bei Mama. Und neulich auf dem Spielplatz haben sie gelernt, dass es auch Kinder mit zwei Papas gibt. Bei ihnen zu Hause sorgen halt Mama und Mimi dafür, dass die Ellenbogen beim Essen unter der Tischkante bleiben. Andere Kinder beneiden sie sogar darum, gleich zwei Mütter zu haben – für jede eine –, und ihr Cousin hat sich neulich gewünscht, auch so gut Rollstuhl fahren zu können.
Dass sie nicht bei ihren „richtigen“ Eltern wohnen, ist ebenfalls kein Thema. Wann gibt es Pfannkuchen, wer hat wann Geburtstag, und ist heute ein Tag für schulterfreie T-Shirts? – das sind die viel wichtigeren Fragen. Nur einmal, da hat Emmi gefragt: „Mama, wo habe ich noch mal gewohnt, bevor ich nach Hause kam?“ Sie weiß inzwischen, dass „manche Babys den Platz wechseln“, so haben die Mütter es ihr erklärt.
Ein Bilderrahmen mit Fotos in ihren Kinderzimmern hilft den Mädchen dabei, ihre erweiterten Familienverhältnisse im Blick zu behalten. Zwei Großelternpaare, Mama und Mimi, Cousin und Cousine und bei Sina im Zimmer etwas kleiner daneben ein Foto von Matthias und eins von Marianne. „Bei der war ich im Bauch. Die ist krank“, sagt Sina, ein hübsches Mädchen mit großen Augen und herzförmigem Gesicht. Anders als ihrer Schwester ist ihr der schwere Start ins Leben nicht anzusehen.
Marianne schafft es nicht so oft wie Ulla, Emmis leibliche Mutter, zu den Treffen unter Aufsicht des Jugendamtes zu kommen. Die Väter schicken Postkarten und Geschenke zum Geburtstag – wenn sie sich daran erinnern. Eine Rolle im Leben der Kinder spielen sie kaum. Mama, Mimi, Emmi, das sind für Sina die wichtigsten Menschen. Wer wer ist, erklärt sie anhand der Fotos aus dem Griechenlandurlaub. Und wo ist Papa? „Wir haben keinen“, stellt sie ohne Bedauern fest. Der Mann, der sich als ihr Vater hat eintragen lassen, heißt Matthias und wohnt – wo noch mal? „Soltau.“ Verena korrigiert: „Nein, da wohnt Manuel.“ Das ist der leibliche Vater von Emmi.
Eine männerlose Kindheit erleben Emmi und Sina nicht – wobei Verena Klein das nicht weiter tragisch fände. „Wahrscheinlich sehen die beiden sogar mehr Männer als viele andere Kinder, deren Mutter alleinerziehend ist oder deren Vater von morgens bis abends arbeitet“, sagt sie. Es gibt Onkel, es gibt den Physiotherapeuten, es gibt Freunde und Peter, den Erzieher, mit dem Emmi und Sina jeden Vormittag durch den Wald stromern, bei Wind und Wetter, in Stiefeln und Matschklamotten.
Bevor die Klischeefalle sich öffnet: Emmi und Sina tragen nicht nur Hosen. Zwar sind ihre Mütter ausgesprochen funktional gekleidet, in Jeans und Fleece-Pullover, die Mädchen tragen, was die Geschäfte hergeben. „Wir lieben es, für unsere Kinder Kleidung zu kaufen“, gesteht Verena. Und hat sich selbst überrascht: „Wenn mir früher jemand gesagt hätte, ich würde später mal rosa Blümchenkleider für meine Kinder kaufen, hätte ich dem einen Vogel gezeigt.“
* Die Namen der Kinder sind geändert