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Archiv-Artikel

Immobilien sind keine gute Idee

UNTERGÄNGE Rafael Chirbes schließt die spanische Geschichte seit dem Bürgerkrieg mit der kapitalistischen Gegenwart kurz: „Am Ufer“

Kaum ist man alt und erfahren, stirbt man auch schon, und die nächste Generation fängt bei null an

VON JÖRG MAGENAU

Die Krise ist überall. Die Krise wirft hässliche Blasen. Und Blasen platzen, wie man weiß: erst die Börsenblase, dann die Immobilienblase, dann die Finanzblase und schließlich auch die Blasen, die aus einem faulenden Sumpfgebiet an der spanischen Mittelmeerküste aufsteigen. Die Bauunternehmer der Region haben dort seit Generationen ihren Schutt abgekippt, die Fabrikanten traditionsgemäß ihren Giftmüll entsorgt, bis eines Tages die Ökologie zur neuen Religion erhoben wurde, um diesem schönen Brauch ein Ende zu machen. Nun aber – und so beginnt Rafael Chirbes Roman „Am Ufer“ – findet der arbeitslose Marokkaner Ahmed, der dort angeln geht, ein Stück Aas, um das sich wilde Hunde balgen. Als er genauer hinsieht, erkennt er zu seinem Entsetzen eine menschliche Hand. Und im Schlick unter all dem Schmodder liegen weitere Leichenteile: zwei Menschen und ein Hundekadaver.

Chirbes macht schon im Prolog klar, dass die Geschichte böse enden wird. Der folgende Roman, der dem Geschehen eines einzigen Tages folgt, dient dann nur noch der Explikation, denn es ist nicht schwer zu erraten, wer die Toten im Sumpf sind. Im Mittelpunkt steht der Schreiner Esteban, der die vom Vater übernommene Schreinerei in den Ruin geführt hat, weil er mit seinem ganzen Kapital bei einem windigen Freund ins Immobiliengeschäft eingestiegen ist. Das war, wie man heute weiß, in Spanien keine gute Idee, zumal Esteban sowieso nicht verstehen kann, warum all die Deutschen klapprige Häuser ausgerechnet an der Küste kaufen wollen, wo sich doch seit Menschengedenken niemand freiwillig dort angesiedelt hat.

Seine Angestellten muss er nach der Pleite entlassen; alles gerät durcheinander, und die Menschen verlieren ihren Ort, ihre Zukunft und damit den festen Boden unter den Füßen. Aber sie reden immer weiter und reden durcheinander, ihre Geschichten, allen Unsinn, alle Vorurteile. Und alles erscheint im großen Bewusstseinsstrom in Estebans Erinnerungen. So erzählt Chirbes: Man muss sehr sorgfältig lesen, um den Überblick nicht zu verlieren bei all den Stimmen, die er zu Wort kommen lässt.

Doch damit nicht genug: Esteban, selbst schon siebzig Jahre alt, muss auch noch seinen uralten Vater windeln und waschen und dann in einem Sessel vor dem Fernseher absetzen, wo er sich nicht mehr regt. Der Alte, längst sprachlos und völlig debil, war einst ein aufrechter Sozialist, der gegen Franco kämpfte, ins Gefängnis ging und knapp mit dem Leben davonkam – im Unterschied zum Großvater, der per Genickschuss hingerichtet wurde. Als Vater aber war er ein unnahbarer, strenger Lehrmeister in der Tischlerwerkstatt; wahrlich kein Liebesverhältnis, das den Sohn mit ihm verbindet. Mit der Familiengeschichte holt Chirbes die tragische spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts seit dem Bürgerkrieg ins Romangeschehen und schließt sie mit der kapitalistischen Untergangsgegenwart kurz, als wären all die Pleiten die letzte, logische Konsequenz.

Was diesen Roman aber erst faszinierend macht, ist die Verknüpfung gesellschaftlicher Phänomene mit der Natur, der Sumpflandschaft als Stätte der Verwesung und dem Meer als großem Umwälzer aller Stoffe, wo Lebendes zu Totem und aus Totem neues Leben wird. Verfall und Verwesung lauern überall. Dagegen ist, weil es sich um einen natürlichen Kreislauf handelt, auch gar nichts zu sagen. Esteban hält jegliches Leben für ökonomische Verschwendung: Kaum ist man alt und erfahren, stirbt man auch schon, und die nächste Generation fängt wieder bei null an. Der verstummte Vater in seinen Windeln und seinem Gestank führt ihm das drastisch vor Augen, und wenn er seinem Hund tief in die Augen blickt, fällt ihm dazu ein, dass „die Weisheit, die aus ihnen spricht, mit uns verschwindet, zu den Abfällen in unserem höchsteigenen Mülleimer gehört“. So wie die Fische im Sumpf und der menschliche Leib, „so sterben auch die Hoffnungen und stinken dann, verpesten die Umwelt“. Nein, vergnüglich ist dieser Roman wahrlich nicht.

Chirbes, Jahrgang 1949, gehört zu den großen gesellschaftskritischen Erzählern Spaniens. Immer wieder hat er sich mit der Franco-Ära auseinandergesetzt. In seinem vorigen Roman, „Krematorium“, erzählte er bereits eine Familiengeschichte zur Zeit des Immobilienbooms und Touristenwahnsinns an der Mittelmeerküste. „Am Ufer“ ist nun eine Art Fortsetzung, das negative Gegenstück dazu, düsterer Endpunkt, Untergangsszenario.

Das ist in all seiner Verfallsversessenheit nur schwer zu ertragen. Der Roman krankt daran, dass die Figuren allzu viel reden, dass die Gespräche so uferlos sind und zu nichts führen, dass man sich durch ganze Geröllhalden von Nichtigkeiten durcharbeiten muss, dass Lebensgeschichten von allzu vielen Figuren ausgebreitet werden und die erzählerische Ökonomie dabei verloren geht. Aber vielleicht ist das ja Absicht bei einem Realisten wie Chirbes: Wenn das ganze Leben Verschwendung ist und die ganze Gesellschaft ein Sumpf – wie könnte dann ein Roman etwas anderes sein?

Und wenn schon alle Geschichte auf Untergang ausgerichtet ist, dann ist es doch nur konsequent, wenn man auch als Leser in diesem Text hoffnungslos untergeht.

Rafael Chirbes: „Am Ufer“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 430 Seiten, 24,95 Euro