: Ein Borstenvieh mit Namen Gustel
DOMESTIZIERUNG Wir lieben und wir schlachten sie: Im Tieranatomischen Theater der Charité erzählen Künstler und Wissenschaftler von Widersprüchen und Entwicklungen in unserem Umgang mit den Tieren
VON TOM MUSTROPH
Das Verhältnis der Menschen zu den Tieren ist vielfältig. Sie essen sie. Sie liebkosen sie aber auch. Sie züchten und trainieren sie. Dann wieder rotten sie sie als Parasiten aus. Und so gut wie immer laden Menschen Projektionen auf Tieren ab.
Es ist schon ein sensationeller Ort, an dem Künstler und Wissenschaftler dieses Verhältnis in einer gemeinsamen Ausstellung ausleuchten: der 1789/90 von dem Architekten Carl Gotthard Langhans gebaute Sektionssaal der Veterinärmediziner der Charité, ein Juwel des Neoklassizismus. Die Ausstellung „Unsere Tiere“ ist in siebzehn Unterkapitel gegliedert und beginnt beim domestizierten Tier. Fotos von Hausschweinen aus den 30er Jahren erinnern daran, dass Schweine damals mitnichten die heute verbreiteten haarlosen, kurzbeinigen Schnitzellieferanten waren. Sie hatten ein borstiges Fell, sahen uriger aus und trugen Namen wie „Gustel“, „Dagmar“, „Wotan“ und „Odin“. Die Namensgabe deutet auf eine Art von persönlichen Bezug der Bauern zum Tier hin.
In Schädelknochen diverser Schweinezüchtungen lässt sich der Weg der Domestizierung nachvollziehen. Der lange Wildschweinschädel verkürzt sich immer mehr, das Gebiss zieht sich zurück. In einem parallelen Schaukasten zeigen die Biologen Frank Steinheimer und Renate Schafberg von der haustierkundlichen Sammlung der Uni Halle, die für die Ausstellung mit der Humboldt-Uni und der Universität der Künste in Berlin kooperiert, Fotodokumente aus ihrem Sammlungsbestand zu früheren Hunger-/Mastversuchen. Je ein Jungtier desselben Wurfs wurde kräftig gemästet, dem anderen Nahrung vorenthalten. Das schlug sich sogar in Unterschieden der Schädelgröße nieder. Riesenhaft wirken die gemästeten Geschwister, winzig die unzureichend gefütterten. Da wird nicht nur klar, was der Mensch über viele Generationen mit dem Schwein angestellt hat, sondern auch, dass selbst das Wissen darüber verloren geht, wenn man Fleisch nur in seiner filetierten Form an der Supermarkttheke kennenlernt. Die Ausstellung „Unsere Tiere“ arbeitet diesem Vergessen entgegen.
Vom domestizierten Tier führt der Weg weiter zum „Tier als Leistungsträger“. Zahlreiche Pokale und Schärpen für Rekordmilchleistungen erbringende Kühe hat Ausstellungskurator Felix Sattler zusammengetragen. Er verweist zudem auf „sexistische und anthropomorphe Zuschreibungen“ bei mancher tierischen Leistungsschau. „Beim Milchkuhpreis ‚Miss Südbrandenburg‘ ist ein wichtiges Kriterium, wie hoch das Euter sitzt. Das wird damit begründet, dass die Euter nicht auf dem Boden schleifen sollen. Das ist sicher nachvollziehbar. Dennoch wird hier Schönheit prämiert und, wie der Titel ‚Miss Südbrandenburg‘ nahelegt, auf menschliche Schönheitsvorstellungen verwiesen“, meint Sattler.
Im Raum daneben präsentieren Anne Kunz und Gong Zhang das entertainende Tier: Kunz mit Utensilien und Gefährten des Flohzirkus Robert Birk, der am 30. Mai auch ein Gastspiel geben wird. Zhang weist auf die chinesische Tradition des „Grillenstimmens“ hin: Mit Harz werden die Gliedmaßen verklebt, und die Tonhöhe verändert sich. In kleinen Schmuckkästchen werden die Grillen – bevorzugt paarweise, denn der Gesang dient ihrer sexuellen Stimulierung – spazieren geführt. Dass sich diese „analoge“ Art der Melodieerzeugung trotz der Epidemie von Handyklingeltönen weiter großer Beliebtheit erfreut, ist Beleg für die erstaunliche Beharrungskraft des vermeintlich Natürlichen wie auch für die menschlichen Strategien, Mitlebewesen zu benutzen.
Die Kassina erecta überlebt
Ein Epilog von Hristina Vancheva präsentiert das Tier als überlegen. Anhand von Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels konstruiert die Künstlerin eine Lebensform zwischen Froschlurch und Chamäleon, die in trockenen Halbwüsten mit extremer Ozonstrahlung überleben kann. Sie entwickelt Abbildungen dieses Königstiers der menschenbedingten Evolution und schreibt einen wissenschaftlichen Text zu dessen Beschreibung.
Zwischen den Hausschweinen im ersten Kabinett und diesem Neulebewesen namens „Kassina erecta“ bevölkern weiterhin der präparierte Körper der Pandabärin Tjen-Tjen – einst Attraktion des Berliner Zoos, jetzt im Kontext des politischen Symboltiers gezeigt – und lebensgroße Waldarstellungen des Medienkünstlers Uli Westphal die Räume rings um den einstigen Sektionssaal. Ebenso zahlreiche, auf Papier gebannte Rabenvögel, die in der Mojave-Wüste die Künstlerin Cecile Bouchier, die dort lebt, beobachtet haben.
Ein Verdienst der Ausstellung ist es, die schwierigen und historischem Wandel unterworfenen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren aufzuzeigen, die Bewertung aber dem Betrachter zu überlassen.
■ Tieranatomisches Theater, Philippstraße 12/13 (am besten Eingang Luisenstraße 56 benutzen), Di.–Sa. 14–18 Uhr, bis 9. August