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: Sich wiederfinden im Selbstverlust

Satyajit Rays „Abhijan“ (Indien 1962) erzählt eine melodramatische Geschichte mit den Mitteln des Realismus

Die erste Einstellung des Films zeigt den Helden im zerbrochenen Spiegel. Der einer hohen Krieger-Kaste entstammende Narsingh (Soumitra Chatterjee) ist von seiner Frau verlassen worden. Nun fristet er, als Einzelkämpfer auf verlorenem Posten gegen einen Monopolisten, ein Leben als Taxifahrer, fern von der Heimat in Bengalen. Geblieben ist ihm der heiß geliebte Chrysler aus dem Baujahr 1930, geblieben sind ihm sein Hilfsfahrer Rama (Robi Ghosh) und der Alkohol. Das zersplitterte Bild von sich und der Welt, das wir in der ersten Szene sehen, hat Narsingh im Verlauf der Handlung wieder zusammenzufügen. Satyajit Rays „Abhijan“ (1962, zu Deutsch „Die Expedition“) erzählt die durchaus melodramatische Geschichte eines Mannes, der sich verliert, um sich wiederzufinden.

Ray, der Meister des indischen Neorealismus, erzählt sie aber nicht als Melodram. Dennoch kommt er mit diesem Film der nachmals „Bollywood“ genannten Filmindustrie des Subkontinents so nahe wie in seinem umfangreichen Werk sonst nicht. „Abhijan“, nur wenige Jahre nach der „Apu“-Trilogie entstanden, die Rays Weltruhm begründete, war der in Indien kommerziell erfolgreichste Film seiner Karriere. Im Westen blieb er unbekannt. Erst diese DVD gemeindet „Abhijan“ in die Geschichte des Weltkinos ein, der er von Rechts wegen angehört. Es handelt sich um eine weitere Entdeckung der aus einer Website leidenschaftlicher Cineasten hervorgegangenen „Masters of Cinema“-Edition. Der Film ist, wie in dieser Reihe üblich, restauriert, so gut es nur ging, die DVD ist mit informativen Extras sowie einem sehr hübschen Booklet versehen.

Die Nähe zu „Bollywood“ ist nicht zuletzt durch Waheeda Rehman markiert, bis heute einer der größten weiblichen Stars des indischen Kinos. Gesprochen wird im Film, den der Filmwissenschaftler Dilip Basu im als Extra beigefügten Interview darum als polyphon bezeichnet, sowohl Hindi als auch Bengalisch. Wir sehen Verfolgungsjagden von Bus, Bahn und Auto. Wir sehen einen Faustkampf, es geht um Opium, Prostitution, Schuld und Vergebung.

Und doch wahrt „Abhijan“ zu einem Kino der Attraktionen beträchtliche Distanz. Ray setzt in der Entfaltung des an Genre-Elementen reichen Plots nicht auf Maximierung des Effekts, sondern auf die vorsichtige Schichtung von Details. Mit voller Absicht nimmt er aus einer Schlägerei alle Dynamik, konzentriert sich in Bild, Ton und im bewusst unrhythmischen Schnitt auf das Keuchen und Durcheinander der Balgerei. Es gibt eine kurze Gesangs- und Tanzeinlage von Waheeda Rehman, aber mit dem Song and Dance von „Bollywood“ hat sie nichts zu tun. Der Star singt, mit fragiler Stimme und ohne Orchesterbegleitung, selbst. Das Booklet zitiert Rehman, die sich an Rays Worte erinnert: „Der Ton meiner Filme ist immer natürlich. Sie sind realistisch.“ Man kann Rehmans Zögern, ihre Unsicherheit auf ungewohntem Terrain in der Szene kaum übersehen. Es ist eine der schönsten des Films.

Narsingh schließt Freundschaft mit dem Christen Joseph (Gyanesh Mukherjee), der einer niederen Kaste entstammt, und er verliebt sich in dessen schöne Schwester Neeli (Ruma Guha Thakurta). Ein Gangster macht ihm, er hat inzwischen seine Taxilizenz verloren, das unmoralische Angebot, Teilhaber einer Unternehmung zu werden, in der es hinter der offiziellen Fassade um Opiumschmuggel geht. Und während Narsingh Neeli zur Flucht mit dem Mann verhelfen muss, den sie statt seiner heiraten will, hat sich die in die Prostitution gezwungene Gulabi (Waheeda Rehman) in ihn verliebt. Narsingh, der stolzer ist, als ihm guttut, aber auch ehrlicher, als sein christlicher Freund Joseph befürchtet, sieht sich vor die Entscheidung für oder gegen das richtige Leben gestellt.

Satyajit Ray macht daraus eine Folge genau inszenierter Seelenzustände und Raumverhältnisse. Noch die von ihm selbst komponierte Musik geht gegen den Strich eindeutiger Lesarten. „Abhijan“ ist ein Triumph des Realismus, gerade weil Ray dem Melodram in der Vermeidung der vom Plot nahegelegten Effekte zwanglos die Plausibilität eines Charakterkonflikts abgewinnt. Ein einziges Mal triumphiert die Fantasie im Bild über die Wirklichkeit: Narsingh reitet als Krieger auf hohem Ross durch die Steppe. In diesem Bild aber zeigt der Film, wie Narsinghs wahres Selbst der Versuchung zum falschen Leben widersteht. Ja, er führt als Traumbild vor Augen, wie der in seinem Stolz verletzte Held in der Imagination eines idealen Ich das zersplitterte Bild von sich und der Welt wieder zu einem ganzen fügen kann.EKKEHARD KNÖRER

Die DVD ist als Import bei amazon.de für rund 30 Euro zu haben