: „Ein schwarzes Loch“
DOKUMENTATION Der – inzwischen inhaftierte – Ökonom Ilham Tohti über die zunehmende Kluft zwischen der han-chinesischen Mehrheit und den Uiguren – und die Atmosphäre von Sprachlosigkeit und Angst
BERLIN taz | Wer in den vergangenen Jahren etwas über die komplizierte Situation in der Grenzregion Xinjiang erfahren wollte, landete meist bei Ilham Tohti: Der 44-jährige Ökonom und Professor an der renommierten Minzu-Universität von Peking gehörte zu den wenigen in China, die es wagten, mit Journalisten über dieses Thema zu sprechen. Bekannt wurde er, weil er in seinem Blog in chinesischer Sprache Artikel über die Wirtschaft und Entwicklung seiner Heimatregion veröffentlichte.
Immer wieder stand er unter Hausarrest, hatte Schreib- und Lehrverbot. Am 15. Januar dieses Jahres wurde er festgenommen. Im Februar erfuhr seine Familie, dass er im rund 2.400 Kilometer entfernten Ürümqi in Haft ist. Er soll wegen „Separatismus“ angeklagt werden – was mit einer hohen Gefängnisstrafe oder sogar mit dem Tod bestraft werden kann. Einen Anwalt durfte er bislang nicht sehen.
In einem längeren Essay unter dem Titel: „Meine Ideale und der Berufsweg, den ich gewählt habe“ schilderte Ilham Tohti seine Sorge über die zunehmend verhärtete Situation in seiner Heimat. Der Text des Autors, dessen Brüder Karriere in der Kommunistischen Partei und im Sicherheitsapparat in Xinjiang gemacht hatten, erschien bereits 2011, wurde aber erst kürzlich bekannt. Die taz veröffentlicht hier einige Auszüge.
„Ich sehe mit Sorge, dass meine Heimat (Xinjiang; d. R.) und mein Land (China; d. R.) in Aufruhr und Zerrissenheit zu versinken drohen. Ich hoffe, dass China, das so viel Unglück erlebt hat, sich zu einer großen Nation entwickelt, in der die unterschiedlichen Ethnien harmonisch zusammenleben und eine großartige Zivilisation schaffen.
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Aufgrund der heiklen Natur der ethnischen Konflikte gibt es schon lange nicht nur eine soziale Spaltung zwischen der han-chinesischen und der uigurischen Bevölkerung. Es fehlt auch eine regelmäßige Kommunikation zwischen han-chinesischen und uigurischen Intellektuellen. Diese Spaltung, ebenso wie gegenseitiges Misstrauen, haben die Situation verschlimmert. Aber erstaunlicherweise hat es darüber in der Öffentlichkeit so gut wie keine Diskussionen gegeben, und die Atmosphäre ist hier nicht nur eigenartig, sondern sogar erschreckend.
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Um diesen Hass und das Misstrauen (zwischen den Volksgruppen) abzubauen, habe ich die Idee eines „Tags der nationalen Harmonie“ (oder „Tags der nationalen Versöhnung“) am 5. Juli vorgeschlagen, um der Tragödie zu gedenken. In den Sommerferien könnten dann Kinder aus Familien verschiedener ethnischer Gruppen beieinander zu Gast sein. Dieses würde hoffentlich dazu führen, emotionale Bindungen und Freundschaften und ein Gefühl der Gemeinsamkeit, des Verständnisses und des Respekts für unterschiedliche Kulturen aufzubauen. Aber aus verschiedenen Gründen wurde daraus nichts.
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Heute blicken die Menschen in Xinjiang im Allgemeinen nostalgisch auf die Jahre der Planwirtschaft (1949–1976) und die Ära (KP-Führer; d. R.) Hu Yaobangs und Song Hanliangs (1976–1989) zurück. […] Zudem war die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung damals begrenzt, und es gab wenig Gelegenheit für die verschiedenen Gruppen, Vergleiche anzustellen, die in ein Gefühl der Ungleichheit münden konnte. Während der Periode Hus und Songs war das politische Klima entspannt.
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Seit den 90er Jahren hat die rasche Entwicklung des Marktes in Xinjiang dazu geführt, dass die Wirtschaft stark vorankam. Die ungleichen Entwicklungschancen der unterschiedlichen ethnischen Gruppen sind nun offenkundiger. Bestimmte Tendenzen innerhalb der uigurischen Gesellschaft geben Anlass zu großer Sorge: Raub, Taschendiebe, Rauschgifthandel, Drogenmissbrauch und Prostitution […] sind so schlimm geworden, dass unsere gesamte ethnische Gruppe plötzlich als eine Gemeinschaft gesehen wird, die zum Verbrechen neigt.
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Gleichzeitig aber sind diese ernsten sozialen Probleme zum Tabu für die soziale Forschung geworden, ein schwarzes Loch im Diskurs. Nur wenige wagen es, diese Probleme direkt zu berühren, geschweige denn systematische Sozialforschung und Analysen voranzutreiben, um Lösungen zu finden. Auf der einen Seite haben die sozialen Probleme der Uiguren zu wachsender Ablehnung gegenüber der Regierung und der Han-Bevölkerung geführt, auf der andere haben sich diskriminierende Vorstellungen vonseiten der Han, besonders im Kernland Chinas, gegenüber den Uiguren verstärkt.
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Als uigurischer Intellektueller fühle ich sehr stark, wie die Kluft und das Misstrauen zwischen den Uiguren und den Han jeden Tag größer wird, vor allem in der jüngeren Generation. Arbeitslosigkeit und Diskriminierung entlang ethnischer Linien haben zu verbreiteter Feindseligkeit geführt.
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Die Situation wird schlimmer. Aber immer weniger Leute wagen es, ihre Stimme zu erheben. Seit 1997 ist das Hauptziel der Regierung in der Region der Kampf gegen die „drei üblen Mächte“ (Terrorismus, Separatismus und religiöser Extremismus). Die indirekte Wirkung ist, dass die uigurischen Funktionäre und Intellektuellen das starke Gefühl haben, dass man ihnen nicht traut. Die politische Atmosphäre ist bedrückend.“
■ Die bei chinachange.org erschienene englische Langfassung des Textes finden Sie hier: bit.ly/1kmEo7T