: Überstunden in eigener Sache
AUS WUPPERTAL HENK RAIJER
Zwei Stunden die Woche im Altenheim, möglichst freiwillig, hoch motiviert und dazu noch nach der Schule. Konrektor Christian Neumann hatte mit mehr Widerstand der Eltern gerechnet. Als nämlich die Schulkonferenz der Realschule Leimbacherstraße in Wuppertal-Barmen im Juli ihre Teilnahme am landesweiten Pilotprojekt „Soziale Kompetenz in der Schule lernen“ (SoKo) beschloss, legte sie sogleich fest, das Engagement der Achtklässler als „schulische Veranstaltung außerhalb des Unterrichts“ auszuweisen. Für knapp 90 Schülerinnen und Schüler ist somit ihr 60-stündiges Sozialpraktikum in diesem Schuljahr teilnahmepflichtig. „Wir wollen keinen zum Jagen tragen“, sagt Neumann. „Aber wir haben hier den Anspruch, nicht nur Mathe und Deutsch zu pauken, sondern den ganzen Menschen zu bilden.“ Verbindliche Projekte wie die Aktion SoKo seien da „eine glänzende Gelegenheit, die sozialen Kompetenzen von Jugendlichen zu fördern“.
Frei gestellt ist den 13- bis 15-Jährigen der Barmer Realschule immerhin, welches Betätigungsfeld sie sich für ihre 60 Stunden Sozialdienst aussuchen. Diese sind bis Ende des laufenden Schuljahres zu absolvieren, werden von Einrichtungen oder Privatpersonen als geleistet abgezeichnet, von eigens eingesetzten Paten kontrolliert und von der Schule zertifiziert. Patrick Brzozowski (13) etwa greift zwei Mal die Woche einem älteren Ehepaar aus seinem Haus beim Einkaufen unter die Arme, die 15-jährige Pinar Bastürk hat sich für ein Engagement in einem Barmer Altenheim entschieden.
Landesweit beteiligen sich seit Beginn des Schuljahres rund 1.400 Schüler und 44 ehrenamtliche Paten an insgesamt 22 Schulen in Nordrhein-Westfalen am Projekt SoKo, das vom NRW-Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes in Düsseldorf konzipiert worden ist. Die eine Jugendliche hilft einer gehbehinderten Frau in der Nachbarschaft bei der Erledigung von Einkäufen, ein anderer unterstützt Betreuerinnen im Kindergarten oder Pfleger im Senioren- oder Behindertenheim. „Sie sollen lernen, sich nützlich zu machen, sie können dem Pflegepersonal zur Hand gehen, alten Menschen vorlesen oder sie im Rollstuhl durch den Park fahren, aber sie sind nicht dazu da, um Bettwäsche zu wechseln oder Pfannen zu schieben“, erklärt Dilek Deren, die Leiterin des Projekts, das für einen Zeitraum von zwei Jahren vom Bundesfamilienministerium finanziert wird.
Wo sie ihre Stunden ableisten und wie sie ihr ehrenamtliches Stundendeputat zeitlich einteilen, bleibt den Schülerinnen und Schülern der SoKo-Vertragsschulen in Duisburg, Wuppertal, Köln, Remscheid, Krefeld, Neuss oder Gummersbach überlassen. Ob im Wochenrhythmus oder im Block, ob in Jugendtreffs, Pflegeheimen, Kirchen, Stadtbibliotheken oder Tierheimen – Hauptsache, die Einrichtungen sind gemeinnützig. Beteiligt sind an der Aktion in der Mehrzahl Gymnasien und Realschulen. „Schade, eigentlich wollte ich gerade Hauptschüler motivieren, sich in ihren Wohngebieten zu engagieren“, sagt Dilek Deren. Schließlich sei das Zertifikat, das die Jugendlichen nach Beendigung ihres SoKo-Praktikums erhalten, nicht nur eine Bestätigung individueller sozialer Kompetenz, sondern auch eine zusätzliche Qualifikation für Schulabgänger, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben. „Es kommt bei einem potenziellen Ausbilder gut an, wenn der sieht, dass er jemanden vor sich hat, der nicht um Fünf den Stift fallen lässt“, sagt Projektleiterin Deren.
Ein Mal die Woche ist Sprechstunde beim Paten. An der Realschule Leimbacherstraße in Barmen betreuen drei Ehrenamtler jeweils eine der drei achten Klassen. Nach dem Regelunterricht berichtet ein Dutzend Jugendlicher in einem Klassenraum über den Verlauf seines außerschulischen Engagements, tauscht sich unter einander aus und bespricht Fortschritte oder Probleme mit dem SoKo-Paten. Der war im Vorfeld bei der Suche nach einer Einsatzstelle am Wohnort behilflich und ist nun auch für die Zeit des Sozialdienstes Ansprechpartner für beide Seiten.
Pinar Bastürk hat ihre 60 Pflichtstunden schon abgeleistet und von ihrem „Arbeitgeber“ abzeichnen lassen. Die Runde staunt, der Pate hakt nach, will wissen, warum sie den Einsatz so schnell hinter sich gebracht habe. „Hauptsache, ich habe das gegeben, was von mir verlangt wurde“, gibt sich die 15-Jährige selbstbewusst. Pinar hat an fünf Wochenenden jeweils gut sechs Stunden im Johanneshaus, einem Altenheim in Barmen, pflegebedürftige alte Menschen beim Essen unterstützt und dem Fachpersonal einfache Tätigkeiten abgenommen. Waren ihr die Überstunden für die Schule also eher lästig? „Nein, im Gegenteil, ich habe da viel gelernt“, sagt die Achtklässlerin, die den SoKo-Einsatz als „prima Vorbereitung“ auf das obligatorische, dreiwöchige Schülerbetriebspraktikum in der neunten Klasse lobt. Für Pinar ist längst klar: Sie will Krankenschwester werden, sich im Praktikum in der Notaufnahme ausprobieren. Die Eltern seien „voll einverstanden, dass ich lerne, wie man mit Menschen umgeht und welche Probleme dabei auftauchen können“. Pinar Bastürk hat durch den SoKo-Einsatz ihr Bewusstsein dafür geschärft, dass Alte und Kranke für „viele Dinge Hilfe brauchen, die ich selbst ganz locker machen kann“.
Die Sprechstunde ist vorbei, die Klasse 8a braucht vorerst keinerlei Intervention. Rolf Pfeiffer, der für die Barmer Realschule ein Schuljahr lang den SoKo-Paten macht, kennt das Umfeld der ihm anvertrauten Jugendlichen. Der 62-Jährige Pensionär aus Barmen sieht es als seine Aufgabe an, ihnen den Sozialdienst schmackhaft zu machen. „Außer denjenigen, die familiär vorbelastet sind, haben Schüler in dem Alter doch kein Verhältnis zum Thema Sozialarbeit oder Pflege“, sagt Ehrenamtler Pfeiffer, der als Rechtsexperte und Ausbilder beim Arbeitsamt Wuppertal gearbeitet hat und vor zwei Jahren in den Vorruhestand gegangen ist. Gerne räumt er ein: „Die neue Aufgabe hält mich jung.“
Auch das sei Ziel des Schule-Projekts, sagt SoKo-Koordinatorin Dilek Deren: die Jungen von den Erfahrungen der Älteren profitieren zu lassen, Rentner und Schüler gleichermaßen ins Ehrenamt einzubinden. Noch sei das Projekt ein „Learning by doing“. Deren: „SoKo ist für alle Beteiligten ein Pilotprojekt.“