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Archiv-Artikel

Kreischen in Köthen

DEUTSCHLAND IN DEN ZEITEN DES GEFÜHLTEN TERRORS Ein hochexplosives Tagebuch aus dem Zentrum eines Landes am Rande der Hysterie

In der vergangenen Woche hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine dringende Terrorwarnung für Deutschland ausgegeben. Wie hat sich das Leben seither verändert? Die Wahrheit hat den Bombenreporter Bernd Gieseking ausgesandt, den deutschen Zustand in dieser schwierigen Zeit zu erkunden.

Freitag, 19. 11. 2010

Die Menschen sind aufmerksam. Fahre von Dortmund nach Köln im ICE von Kiel nach Basel. Im Düsseldorfer Hauptbahnhof werden wir angehalten und der Zug wird geräumt. Die Zeugen werden hinterher dafür noch gelobt. Die Terrorwarnungen würden ernst genommen. Gelobt? Die halten nur den Verkehr auf!

Samstag, 20. 11. 2010

Kann mich selbst der allgemeinen Hysterie nicht mehr entziehen. Plötzlich wird es schwierig für mich zu Hause. Ich habe in den letzten drei Tagen bereits mehrfach verdächtige Behälter in meiner Wohnung gefunden. Behältnisse, die ich mir selber nicht zuordnen konnte: der Bioabfall, die Urne mit der Asche meines Golden Retrievers, die Sporttasche. Hatte ich alle schon lange nicht mehr gesehen und wusste nicht, wem sie gehören.

Sonntag, 21. 11. 2010

Kriege neue Nachbarn. Berlins Innensenator empfiehlt, Nachbarn zu melden, die etwas seltsam aussehen und eine Sprache sprechen, die wir nicht verstehen. Meine sind sehr seltsam. Aus dem Schwarzwald. Man versteht kein Wort, wenn man an der Tür horcht. Die zeige ich aber erst Montagabend an, ihr Umzugswagen kommt erst morgen früh. Wenn schon, dann soll die Polizei auch alles durchsuchen können.

Montag, 22. 11. 2010

In Sachsen-Anhalt gab es eine Bombenwarnung an einem Imbiss. Terroristen hatten dort offenbar ein Schild aufgehängt: „Weg mit der Currywurst!“ In Köthen, im Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Wer ist so besoffen, dass er glaubt, die Terroristen wollten Köthen sprengen? Köthen zu sprengen ist noch dümmer, als überhaupt eine Bombe zünden zu wollen. Wie da der Notruf wohl ablief? „Kreisch, hier ist ein verdächtiges Paket.“ – „Von wo rufen Sie denn an?“ – „Köthen!“ – „Verdammte Scheiße! Schon wieder Köthen! Moment, wir sperren den Ort großräumig ab.“ Wie jeder weiß, liegt Köthen zwischen Magdeburg und Leipzig, aber auch zwischen Dresden und Braunschweig! Die Terroristen konnten sich wahrscheinlich nicht entscheiden, da haben sie genau die Mitte genommen. Köthens Grillimbiss – gefährdet wie der Berliner Hauptbahnhof.

Dienstag, 23. 11. 2010

Hatte seit der vergangenen Woche schon drei mal das Sonderkommando bei mir in der Wohnung. Und zweimal haben die sich im Stockwerk vertan. Mein Vermieter hat mir vor einer halben Stunde deswegen gekündigt. Aber ich lasse nicht nach. Seit die Polizei auf meine Anrufe nicht mehr reagiert, sprenge ich selber, was ich an Verdächtigem in meiner Wohnung entdecke. In den letzten 15 Minuten habe ich einen Dresdner Stollen, einen Karton mit schwarzen Herrenschuhen, Größe 42, und eine Packung Miraculi gesprengt. Eine Dose Hengstenberg Sauerkraut steht nun auf meinem Tisch – bereit für den nächsten Rumms! Ich glaube, es liegt in der Familie. Ich habe ein Detonations-Gen. Meine Mutter ist auch oft explodiert. BERND GIESEKING