DIETER RUCHT ÜBER DIE EHER FLAUEN AKTIONEN GEGEN DEN SOZIALABBAU
: Viel Unmut, wenig Protest

Der diffuse Unmut wird sich weiter zuspitzen und vor allem die junge Generation erfassen

Die Vorzeichen für diverse Protestbewegungen scheinen günstig: Der Rohstoff, eine verbreitete und diffuse Unzufriedenheit über „die politische Klasse“, liegt reichlich auf Lager. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise ist das Vertrauen in die Weisheit von Experten im Kellergeschoss gelandet. Kürzungen staatlicher Leistungen, schönmalend als „Reformen“ bezeichnet, sind bei weit mehr als der Hälfte der Bevölkerung spürbar. Zu allem Überfluss war die schwarz-gelbe Regierung von internen Streitigkeiten geprägt. Die drei im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien haben sich einander angenähert. Und zudem mehren sich Anzeichen eines zumindest symbolischen Schulterschlusses mit dem außerparlamentarischen Protest.

Claudia Roth mischte sich unter die Sitzblockierer vor dem Zwischenlager im Wendland; Gesine Lötzsch sah man vor der Bühne der Dannenberger Atomkundgebung; Olaf Scholz beteiligte sich am Hamburger Hafen an der Menschenkette zwischen den Kraftwerken in Krümmel und Brunsbüttel. Kein Wunder, dass Regierungskreise, flankiert von Teilen der Publizistik, vor einer „Republik der Neinsager“ warnen.

Faktisch ist es jedoch um die Kraft des Neins sehr unterschiedlich bestellt. Während die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken mit einem lauten und handlungsstarken Nein beantwortet wird, rufen die Kürzungen im Sozialbereich zwar Unmut, aber keine ähnlich massive Protestbewegung hervor. Am Ärger der unmittelbar Betroffenen kann es kaum liegen. Auch wäre der Zeitpunkt des Protests nicht ungünstig. Die Bundesregierung hat den „Herbst der Entscheidungen“ und als einen Teil davon das „Sparpaket“ angekündigt. Wann also der Protest, wenn nicht jetzt? In der Tat stehen für diesen Tag Proteste an. Aber werden es auch machtvolle Proteste?

Vermutlich wird mit einer Demonstration in der Größenordnung zu rechnen sein, wie sie bereits im Juni dieses Jahres zu verzeichnen war. Vermeldet wurden 20.000 Menschen in Berlin und weitere 10.000 in Stuttgart. Aber selbst wenn die Größenordnungen der Sozialproteste vom April 2004 (mit insgesamt 500.000 Teilnehmern) und den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV vom Sommer desselben Jahres erreicht würden, so wäre es nur die Wiederholung eines Spektakels, das man aus Regierungssicht aussitzen kann.

Warum heute nicht einmal annähernd die Mobilisierungskraft von 2004 erreicht werden kann, hat wohl vor allem drei Gründe. Zum ersten werden die am unmittelbarsten Betroffenen, also Hartz-IV-Empfänger, prekär Beschäftigte und Personen mit kleinem Renteneinkommen, nicht auf die Barrikaden gehen. Sie sind eher vereinzelt und auch vor dem Hintergrund der gescheiterten Proteste gegen Hartz IV weithin entmutigt.

Zum Zweiten liegt es an der Zögerlichkeit insbesondere der Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände, die zwar über Sozialkürzungen lamentieren, aber nicht zu entschiedener Intervention willens und teils nicht fähig sind. Die einen kümmern sich um ihre „Stammklientel“ der Facharbeiter; die anderen sind ideologisch zu heterogen, um sich auf eine klare Stoßrichtung festzulegen.

Ein dritter Faktor ist die diskursive Großwetterlage. Finanzkrise, Staatsverschuldung, demografische Entwicklung, Kostenexplosion im Gesundheitswesen und vieles andere lassen drastische Maßnahmen als „geboten“ und geradezu „zwingend“ erscheinen. Daran haben sich alle, je nach ihrer Schulterbreite, aber doch mit einer gewissen Rücksichtnahme auf „die Leistungsträger in unserer Gesellschaft“, in angemessener Weise zu beteiligen.

Kann und wird es so wie bisher weitergehen? Vorerst ja, trotz aller Regungen des Unmuts und der Behauptungen einer übergreifenden Interessenlage des Prekariats. Doch der noch diffuse Unmut wird sich weiter zuspitzen. Und er wird zunehmend die junge Generation erfassen, die sich, neben den Gewerkschaften, durchaus überraschend an die Spitze der Proteste gegen eine Rentenreform in Frankreich gestellt hat, welche aus bundesdeutscher Sicht kaum eines Aufhebens wert erscheint. Ein heißer Herbst wird es in diesem Jahr nicht mehr werden, aber mit einer längerfristiger Erwärmung des Klimas ist zu rechen.

Dieter Rucht ist Soziologie-Professor am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).