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Archiv-Artikel

Ein Melodienstrauß im Tannenwald

HISTORIENTHEATER Das Gorki Theater macht ein Projekt zum Ersten Weltkrieg und lädt zum „patriotischen Liederabend“. Wer eine Abrechnung mit der Kriegsbegeisterung erwartet, wird von schöner Musik überrascht

Mal kann ein synchrones Achselzucken, mal ein Backenaufblasen als Distanzierung gelesen werden

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Als der deutsche Kaiser am 1. August 2014 vom Balkon des Berliner Schlosses den Krieg verkündete, antwortet ihm die versammelte Menge mit dem Lied „Nun danket alle Gott“. Andere Quellen berichten, man hätte auf dem Schlossplatz die preußische Volkshymne „Heil dir im Siegerkranz“ angestimmt. Die Begeisterung über die deutsche Kriegserklärung kannte 1914 viele Lieder, hob doch der sicher erwartete Sieg über den „Erzfeind“ den Nationalstolz und konnten sich doch auch die Sozialdemokraten mit dem Kampf gegen den russischen Zarismus identifizieren.

100 Jahre später wird in Berlin und ganz Europa an den Krieg und das Schlachtfeld, das er mit fast zehn Millionen Toten in Europa hinterließ, erinnert. Im Zuge dieses Gedenkens eröffnete am Dienstag im Gorki Theater der History Campus, ein Arbeitstreffen zum Ersten Weltkrieg, das 400 junge Menschen aus ganz Europa in interdisziplinären Workshops zusammenbringt. Das Gorki ist aber nicht nur das Tagungszentrum für diese Konferenz – zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes wurde das künstlerisches Programm Open Campus mit Konzerten, Ausstellungen, Performances, Stadtspaziergängen und Installationen entwickelt.

Eröffnet wurde die Reihe am Dienstag mit der Premiere von „Hätte klappen können – ein patriotischer Liederabend“ des belgischen Regisseur Ruud Gielens. Und wo könnte man einen Liederabend über den deutschen Patriotismus wohl sinnfälliger ansiedeln als im viel besungenen grünen deutschen Wald? Es ist ein ganzer Tannenwald aus einzelnen Bäumen, die in Reih und Glied mit der Spitze nach unten vom Bühnenhimmel hängen.

Im Laufe des Abends wird er sich immer wieder heben und senken, nach hinten verschwinden und in den Vordergrund schieben. Aus einem großen Pappkarton mit der altdeutschen Aufschrift „Deutschland“ klettert die Schauspielerin Sesede Terziyan und rezitiert Texte des belgischen Dichters Paul von Ostajen und Thomas Manns „Gedanken im Kriege“ von 1915. Dann rollt die Musikbühne mit drei Musikerinnen, in schwarzen Gouvernantenkostümen als Heilsarmistinnen verkleidet, herein, mit Klavier, Akkordeon und Trompete. Die „Golden Gorkis“, das Laien-Ensemble 55 plus des Gorki Theaters, bringt sich in Stellung. „Kein schöner Land“ erklingt und die schreckliche „Wacht am Rhein“ mit dem Mitgröl-Refrain: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“.

So singt man sich von den Hits des Ersten Weltkriegs über Bach und Schumann zu iranisch-türkischen Volksliedern. Anastasia Gubareva singt russische Lieder zur Gitarre und trägt außerdem lange Passagen aus der Novelle „Die Erde“ von Leonid Andrejew vor, einem Wegbegleiter Maxim Gorkis.

Ein wenig ratlos bleibt der Zuschauer auf der Suche nach der großen Klammer, mit der man den disparaten Abend fassen könnte. Ist das ein bunter Melodienstrauß namens „Songs of War and Hate“ oder „ Songs of Magic and Loss“? Ein historischer Eurovision Song Contest der schönsten Kriegs- und Antikriegslieder? Immerhin werden weite Assoziationsräume aufgemacht an diesem patriotischen Liederabend voller schöner musikalischer Momente und poetischer Bilder im grünen Tann.

Denn viele lange Texte werden an diesem Liederabend auch noch vorgetragen: Von Aischylos geht es zu den expressionistische Gedichten, zu Trakl und Benn. Von Paul Celan zu Klemperer und Heiner Müller. Auf Celines „Reise ans Ende der Nacht“ folgt Ehrensteins „Kriegsgott“, und dazwischen gibt es immer wieder Passagen aus Hannah Arendts Ethikvorlesung „Über das Böse“ von 1965 zu hören.

Und auch die Lieder sprengen jeden Zeitrahmen: Auf „Der tote Knabe“ von Brahms folgen deutscher HipHop und die Bachkantate „Ich habe genug“. Der Chorgesang bleibt harmonisch und traut sich nur einmal, zu absurden Kieksern und Dissonanzen auszubrechen. Musikalisch schöne Momente entstehen, wenn sich die arabisch-arabeske Gesangstradition und das einfache deutsche Volkslied gegenüberstehen.

Kommentiert werden die Texte durch die Schauspieler nur sparsam: Mal kann ein synchrones Achselzucken, mal ein absurdes Backenaufblasen als Distanzierung gelesen werden, mal untermalt ein Ausdruckstanz im Hintergrund das gesprochene Wort. Und so bleibt es recht statisch im deutschen Tannenwald. Lediglich die Musikbühne muss ab und an vom Chor der alten Damen in ihren langen weißen Kleidern verschoben werden, erschöpft lagern sie sich am Schluss um die Musiker und entschlummern sanft.

■ „Hätte klappen können“, wieder am 8., 12. und 30. Mai (www.gorki.de)