: Ein Ufo in Boomland
MANIFESTA 8 Erst wurde Amor bewacht im Gefängnis von Cartagena, dann half er dort beim Aufbau der Kunst: Wie die Manifesta in den spanischen Städten Cartagena und Murcia Fuß zu fassen suchte
■ Die 1993 gegründete Manifesta Biennale versteht sich als transeuropäische Ausstellungsplattform für den künstlerischen Nachwuchs. Auf Einladung europäischer Städte oder Regionen gastiert sie jeweils an einem anderen Ort. Die diesjährige Manifesta 8 findet noch bis zum 9. Januar in den südspanischen Städten Murcia und Cartagena statt. Die Kunstbiennale meidet bewusst die bekannten Zentren des Kunstgeschehens. Stattdessen ist es ihr Anspruch, in einer eher kunstfernen oder -fremden Umgebung kulturell stimulierend zu wirken und kunstbezogene, vor allem aber auch gesellschaftspolitische Debatten anzuregen.
VON REINER WANDLER
Stell dir vor, sie geben eine Manifesta und keiner merkt es. Ein paar Touristen, hin und wieder eine Schulklasse; wer einen Besucheransturm erwartete, der die 8. Auflage der Europäischen Biennale der zeitgenössischen Kunst im südostspanischen Murcia und Cartagena in ein Großereignis verwandelt, sieht sich enttäuscht. „Es flacht ab“, erklärt die Dame am Empfang einer der Säle. Die Gruppenreisen kämen meist von weit weg. Lokale Schulen und Universitäten würden das Angebot an moderner Kunst kaum nutzen. Die Zahlen der Hotelverbände, vor allem in der kleineren der beiden Manifesta-Städte, in Cartagena, bestätigen dies.
Ganz anders die offiziellen Angaben: 53.000 Besucher soll demnach die Manifesta im ersten von drei Monaten verzeichnet haben. Damit seien 70 Prozent der fünf Millionen Euro, die das Wanderkunstprojekt die Region Murcia gekostet hat, als Einnahmen in die Region zurückgeflossen. Die Kunst als Heilmittel der Krise sozusagen.
Doch wer auf der Straße nach den Ausstellungsorten – meist schon lange leer stehende Gebäude – fragt, erntet verständnislose Blicke. „Das alte Postamt von Murcia? Das ist doch seit Jahren außer Betrieb, was wollen Sie da?“ – „Das Gefängnis von Cartagena? Das ist zu. Die Gefangenen sind in andere Haftanstalten verlegt worden.“ Ob die Hausfrau, der Bauarbeiter oder die pensionierte Studienrätin, die Antworten fallen immer gleich aus.
„Vermutlich ist, was da gezeigt wird, zu schwer zu verstehen“, erklärt sich Angel Amor das fehlende Interesse der Einheimischen. „Zu viel Video und zu wenig Skulpturen und Malerei“, beschreibt er, was auch Kunstkritiker bemängeln. Der junge Mann arbeitet als Freiwilliger auf der Manifesta und ist als solcher ein Aushängeschild für die Ausstellung, die sich selbst als soziopolitisches Projekt begreift. Amor steht für den postulierten Dialog mit der Gesellschaft.
Denn Amor saß, bevor er im Sommer nach Murcia verlegt wurde, in genau jenem Gefängnis von Cartagena ein, das jetzt einem der interessantesten Ausstellungsteile Platz bietet. In den leeren Zellen des Gefängnisses San Antón laufen – wie könnte es anders sein – Videos. Im Gegensatz zu den Installationen im städtischen Museum Arqua oder im alten Postamt und der alten Artilleriekaserne in Murcia, haben die Kurzfilme klare, gut verständliche Aussagen.
Der französisch-dänische Künstler Thierry Geoffroy nimmt sich des alltäglichen Dialogs der einheimischen Bevölkerung mit den Einwanderern aus Nordafrika an. Er führt Interviews auf den Straßen von Cartagena. Schnell überlässt er den Befragten das Mikrofon und erreicht so, dass sich Nachbarn von beiden Seiten des Mittelmeeres gegenseitig befragen und kennenlernen. Ein interessantes Dokument, das Vorurteile und Halbwissen zutage fördert. Es ist einer der wenigen Orte, wo der von Manifesta angestrebte Dialog mit Nordafrika spürbar ist.
Ein dunkles Kapitel der Geschichte
Gerade einmal 8 der insgesamt 120 Künstler stammen von der anderen Seite des Mittelmeeres. Abed Anouti aus dem Libanon, der in einer anderen kahlen Zelle sein Projekt zeigt, ist einer davon. Mit den Wunden des Bürgerkriegs in seiner Heimat tief in die Seele eingebrannt, macht sich Anouti in einem halbstündigen Dokumentarfilm auf die Suche nach den Spuren des spanischen Bruderzwists von 1936 bis 1939. Cartagena und das Gefängnis von San Antón schrieben eines der dunkelsten Kapitel des Konflikts, der Spanien in eine fast 40-jährige Diktatur stürzte. Die Stadt am Mittelmeer war der wichtigste Hafen der sich verteidigenden Republik und der letzte Ort, der den Faschisten unter General Francisco Franco in die Hände fiel. Die anschließende Säuberungswelle war erbarmungslos, San Antón völlig überfüllt, Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung. Anouti sucht „Im Schatten von San Antón“ nach Zeitzeugen und stößt dabei auf eine Mauer des Schweigens, die er langsam durchbricht.
„Wir Freigänger von San Antón wurden gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, an Kunstwerken mitzuarbeiten“, berichtet Amor. Der verurteilte Bankräuber und Polizistenmörder hat das Szenario einer Installation des deutschen Künstlers Stephan Dillemuth mit aufgebaut. Es ist ausgerechnet ein Gitterverschlag, in dem natürlich ein Video läuft.
Für Amor, der zum Jahresende endgültig auf freien Fuß kommen wird, gibt es ein Vor und Nach der Manifesta. Der Kontakt mit der Kunstwelt hat Lust auf mehr gemacht. Seit Mitte Oktober studiert er an der Kunsthochschule in Murcia. „Die Kunst hat mein Leben grundlegend verändert, endlich weiß ich, wohin ich will“, erklärt Amor, der mit 14 Jahren erstmals an einem Überfall beteiligt war. Er will sich ganz der Bildhauerei widmen.
Veränderung vorübergehend
Die Manifesta findet er aufregend und neu, aber dennoch hat er seine Zweifel. „All das ist bald vorüber, und dann?“, fragt er. „Die meisten Gebäude stehen wieder leer. Das Postamt wird zu einem Casino umgebaut, dabei wären in der Region so viele andere Dinge nötig“, glaubt Amor. Er denkt dabei an Räume für lokale Kunstprojekte, Theater, Musiker und Galerien … kurz Freiräume aller Art. „Doch wir leben in einem Land des schnellen Geldes“, weiß er und denkt dabei nicht an Bankräuber, sondern an die Spekulation auf dem Immobilienmarkt, die in der Region um Murcia in den letzten Jahren blühte und die Mentalität entschieden beeinflusst hat.
Wenn jemand eines der Gebäude dringend brauchen könnte, ist dies Juan de Díos, Programmdirektor der Kunst- und Designhochschule in Murcia, in der Amor seine ersten künstlerisch-akademischen Schritte macht. Die Schule platzt aus allen Nähten und die Mittel sind spärlich. „Dabei bräuchten wir nur 200.000 Euro pro Jahr mehr, um gut zu arbeiten“, erklärt De Díos angesichts der 5 Millionen Euro für die Manifesta.
Der Produktdesigner betrachtet die Biennale „mit gemischten Gefühlen“. Zum einen biete die Manifesta regionalen Künstlern eine Gelegenheit, „wenn auch nur auf kleinen Parallelveranstaltungen“, zum anderen passe „sie nicht zum aktuellen Kontext der Krise“. Die Spekulationsblase ist geplatzt. Murcia liegt mit knapp 24 Prozent Arbeitslosigkeit vier Punkte über dem Landesschnitt, überall wird gespart. Auf das künstlerische Konzept angesprochen, schüttelt De Díos nur den Kopf: „Vielleicht kapiere ich das soziopolitische Konzept einfach nicht, aber in meinen Augen ist die Biennale Kunst für Kunstprofis.“ „Die Manifesta ist ein Ufo, das in Murcia zwischenlandet“, urteilt auch Patricio Hernández abwertend. Er weiß viel von Kunst und Kultur in der Region. Der Kulturmanager bei der Stadtverwaltung von Cartagena widmet seit Jahren auch seine Freizeit der Kulturpolitik, zuerst als Stadtrat der sozialistischen Partei und heute als Parteiunabhängiger im Bürgerforum, dem er vorsteht. Diese Initiative analysiert die Entwicklung der Region kritisch. Alle zwei Jahre gibt das Forum eine Untersuchung über die Politik der konservativen Regionalregierung mit dem Titel „Die andere Lage der Region“ heraus.
Der Kulturminister Murcias, Pedro Alberto Cruz, schneidet darin nicht gut ab. Er wolle die Region mit aller Gewalt und viel Geld auf die Landkarte der Wochenendtouristen hieven, wie dies im benachbarten Valencia gelang. „Dazu zaubert er ein Großprojekt nach dem anderen aus der Schublade“, berichtet Hernández: Die Conservera, ein Kunstmuseum außerhalb der Stadt, in dem „mehr Bedienstete als Besucher anzutreffen sind“, das alljährliche Popfestival SOS, „bei dem jede Minute Musik ein Facharbeitergehalt kostet“, Sponsoring für das spanische Formel-1-Team Hispania, das Projekt für einen Paramount-Erlebnispark oder eben die Manifesta. „Eine Kulturblase als Ergebnis der Spekulationsblase“, nennt Hernández diese Politik.
Jetzt, nach dem Ende des Baubooms muss gespart werden. Der Rotstift wird gnadenlos angesetzt, aber nicht bei den Prestigeprojekten sondern bei der regionalen Kultur an der Basis. Theater und Bibliotheken werden geschlossen, lokalen Initiativen die Zuschüsse entzogen.
„Dabei sind es genau diese Einrichtungen, die den Menschen Kunst und Kultur nahe bringen“, beschwert sich Hernández. Ein Blick in den neuen Bericht des Bürgerforums, der Ende November erscheint, zeigt: Murcia ist eine der am zurückgebliebensten Regionen, wenn es um das kulturelle Niveau geht. Nur 24 Prozent der Bevölkerung besuchen Museen und 15 Prozent Ausstellungen. Damit liegt Murcia sieben bzw. zehn Punkte unter dem Landesschnitt. „Daran werden die Millionen für die Manifesta ganz sicher nichts ändern“, urteilt Hernández und fragt: „Was wird denn bleiben, wenn das Ufo wieder abhebt?“
Santi Eraso hat darauf eine Antwort. Der ehemalige Direktor des baskischen Kunstmuseums Arteleku erinnert sich noch gut an die Manifesta 5, 2004 in San Sebastián: „Die europäische Biennale kam und ging, und kaum jemand weiß, wie sie war. Sie endete, wie sie begonnen hatte, mit einem Fest für VIPs mit Cocktails und vielen kostenlosen Akkreditierungen für Profis aus der Kunstbranche. In den vier Monaten, die sie dauerte, ist kaum mehr passiert.“