: Die Oberschicht wohnt nebenan
Rückkehr der Klassengesellschaft (2): Klischees bestimmen die Diskussion über die Reichen – und verhindern eine Debatte über die Verteilungsprobleme der Gesellschaft
Wer ist reich? Vielleicht schon jemand, der 280.000 Euro besitzt inklusive einer Handvoll Wertpapiere und eines abbezahlten oder geerbten, selbst bewohnten Häuschens? Eine Familie, die so viel besitzt, würde sich selbst wahrscheinlich als gehobene „Mittelschicht“ bezeichnen – und nicht als reich. Schließlich bekommt man für 280.000 Euro zwar eine Doppelhaushälfte im Allgäu, für eine Villa in Hamburg reicht es noch lange nicht.
Doch: Nach der Statistik aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gehört ein Haushalt zum reichsten Fünftel dieser Gesellschaft, der eben 280.000 Euro, inklusive Immobilie, sein Eigen nennt. Hier handelt es sich bereits um die „Oberschicht“.
Nein, könnte man jetzt widersprechen, die Oberschicht, das sind doch nur die ganz oben. Aber schon ein Vermögen von 511.000 Euro genügt um zu den reichsten vier Prozent aller Haushalte zu gehören. Sicher werden selbst diese Villenbesitzer von sich als obere „Mittelschicht“ sprechen und beim Begriff „Oberschicht“ eher an Damen mit breitkrempigen Hüten beim Galopprennen in Baden-Baden denken.
Offenbar gibt es in Deutschland ein Problem der Wohlhabenden, sich als Mitglied einer Oberschicht wahrzunehmen. Es herrscht eine Kluft zwischen der statistisch nachweisbaren Vermögensschichtung und dem Selbstbild der reichen BürgerInnen. Stattdessen drehen sich die Geschichten um die Oberschicht meist um die wenigen Superreichen: etwa um die Brüder Albrecht, Eigentümer der Aldi-Kette, die zusammen über mehr als 30 Milliarden Euro verfügen. Doch gibt es nicht viele Superreiche aus dieser Riege.
Es ist allerdings nicht nur so, dass es in der Selbstwahrnehmung der Deutschen fast keine Oberschicht gibt, sie wird zudem nicht einmal besonders besteuert. So kommt nur ein Bruchteil des Bruttoinlandsprodukts hierzulande durch Steuern auf Vermögen zusammen. Höher liegt dieser Anteil beispielsweise in Großbritannien. Zudem berichtet die Presse dort ohnehin relativ neidfrei über Lieben, Leiden und Marotten der „Upper Class“.
Bei uns hingegen hat der Begriff „Oberschicht“ ein Imageproblem, ähnlich wie die „Unterschicht“. Möglicherweise liegt das daran, dass bei uns die Oberschicht historisch kaum als stabilisierend oder gar schützend erlebt wurde. Gerade in der NS-Zeit beugte sich ja auch die industrielle Unternehmerschaft in Deutschland zu großen Teilen dem Regime.
Der Begriff „Oberschicht“ ist eine Leerstelle, die niemand wirklich füllen will. Die einen, die wohlhabenden Familien aus dem Wirtschaftsaufschwung der westdeutschen Nachkriegszeit, wollen es nicht sein. Die anderen, die Großunternehmer oder Spitzenmanager, scheuen ebenfalls die Klassifizierung und sind zudem nur eine kleine Gruppe, sodass man an ihnen keine echte Verteilungsdiskussion festmachen kann. Es ist bezeichnend, dass sich auch Unternehmer hierzulande lieber als „Mittelstand“ bezeichnen.
Oberschicht – das klingt ein bisschen zu sehr nach Privilegien aufgrund von Herkunft. Dass eine Debatte über diese Privilegien verweigert wird, macht diese Gesellschaft aber nicht durchlässiger.
Nach Erkenntnissen des Eliteforschers Michael Hartmann entscheidet hierzulande eher die soziale Herkunft über die erreichbare soziale Position als Fleiß und Leistung. Das Kind eines leitenden Angestellten hat eine zehnmal größere Chance, in die erste Führungsebene eines deutschen Unternehmens zu kommen, als das Kind eines Arbeiters – wohlgemerkt dann, wenn alle anderen Variablen wie Studienfach, Universität, Auslandsaufenthalte gleich sind.
Schon beim Geschäftsessen mit einem Neubewerber erkennen sich „Bürgerkinder“ am Habitus. Ein ganzer Zweig des „Benimm-Coaching“ beschäftigt sich inzwischen mit Tipps, wie ein anekdotischer Einsteig bei Reden souverän wirkt und wie man Austern schlürft. Doch das nützt wenig. Hartmann stellt sogar eine Verschärfung der sozialen Selektion bei den jüngeren Jahrgängen der von ihm untersuchten Promovierten fest.
Wer über die Privilegierten sprechen will, muss sowohl über ökonomisches als auch über kulturelles und soziales Kapital reden. Und darüber, wie unterschiedlich Lebensgefühl und Zukunftsangst sind, je nachdem, ob man 300.000 Euro besitzt oder mit 10.000 Euro verschuldet ist. Wichtig ist außerdem der Unterschied, den es macht, wenn man sich eine bessere gesundheitliche Versorgung und entsprechende Aufmerksamkeit der Ärzte leisten kann, statt auf den Standard der gesetzlichen Kassen angewiesen zu sein.
In ihrer Steuergesetzgebung umschmeichelt die Politik die Wohlhabenden ohnehin schon längst so, als ob man sie gnädig stimmen müsste. Während Hartz-IV-Empfänger ihre Lebens- und Liebesverhältnisse offenbaren müssen, werden Reiche demnächst mit einer niedrigen Abgeltungssteuer auf Vermögenserträge gelockt, ihr Geld bitte, bitte nicht ins Ausland zu bringen und nicht ihre Ertragssteuern zu hinterziehen.
Auch wurde der Spitzensteuersatz seit dem Jahre 2000 stetig von 53 auf 42 Prozent abgesenkt. Ob neue Jobs dadurch entstehen, ist zumindest umstritten. Der Umgang der Politik mit der Psyche der Wohlhabenden ist spekulativ. Und symbolisch. So wurde die ab Januar 2007 geltende „Reichensteuer“ mit einem um drei Prozent erhöhten Spitzensteuersatz derart abgefasst, dass nur ein paar zehntausend Höchstverdiener davon betroffen sind.
Doch die Oberschicht ist breiter. Schließlich gehört schon ein kinderloses Informatiker-/Lehrerehepaar mit einem Gesamtnettoverdienst von monatlich 5.100 Euro zum reichsten Sechzehntel der Einkommensbezieher, wie der Armuts- und Reichtumsbericht errechnen lässt. Die Politik geht an diese „gefühlte Mittelschicht“ und statistische Oberschicht nicht mehr heran.
Es herrscht derzeit eine gewisse Umverteilungsmüdigkeit – obwohl die Armutsquote in den vergangenen Jahren gestiegen ist und der reichste Teil der Bevölkerung über einen noch höheren Anteil des Gesamtvermögens verfügt als zuvor. Ungleichheitsdebatten konzentrieren sich derzeit auf die unverhältnismäßig hohen Gehälter einiger Spitzenmanager à la Josef Ackermann oder Ron Sommer.
Doch wenn man offen darüber spricht, dass die Wohlhabenden nun mal die Oberschicht sind, dann werden vielleicht wenigstens die Rufe nach weiterem Sozialabbau leiser. Wer selbst die besten Bildungschancen hatte, sollte heute nicht die Arbeitsmoral von Hartz-IV-Empfängern im großen Stil in Zweifel ziehen. Es geht eben nicht nur um „Eigenverantwortung“, sondern um Herkunft, Schicksal und Glück.
Gerade Angehörige der neuen Oberschicht wissen das ganz genau. Eine Gesellschaft, die nach unten die Armen und Arbeitslosen produziert, ermöglicht nach oben die hohen Einkommen und Erbschaften. Es ist dasselbe System. Man spricht nur nicht so gerne darüber.
BARBARA DRIBBUSCH