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Archiv-Artikel

Lotterbett und Revolution

KUNST Eine deutsch-französische Ausstellung im Wolfsburger Kunstverein nimmt sich der neuen Lust an der Gemeinschaft an und entdeckt deren Vielseitigkeit: Mal wirkt sie kuschelig-affirmativ, mal subversiv

Gemeinschaft ist also nicht immer und jedermanns Sache

Seit einigen Jahren boomen genossenschaftliche Baugruppen in westeuropäischen Großstädten. Eine vorrangig junge, akademisch-kreative sowie familien- und gemeinschaftsorientierte Klientel will sich damit innenstadtnahes, selbstgenutztes Eigentum an Wohnraum sichern. Und da die kollektiven Wohnträume nichts mehr mit den anonymen fiskalischen Tricks vergangener Bauherrenmodelle zu tun haben, ist ihnen Unterstützung gewiss.

Offenkundig lässt sich heute ein neuer Hang zur Gemeinschaft konstatieren. Davon scheinen auch die Kuratorinnen Anne Kersten und Sophie Legrandjacques auszugehen, die für eine Ausstellung im Kunstverein Wolfsburg assoziative künstlerische Parameter zum Phänomen zusammengetragen haben. Organisiert worden ist die Ausstellung im Rahmen der Zusammenarbeit von 24 französischen centres d’arts und deutschen Kunstvereinen, gezeigt wird sie nach Wolfsburg im Le Grand Café in St. Nazaire bei Nantes, einer Industriestadt mit einem vergleichbar monopolistischen Arbeitgeber, einer großen Werft.

Ein lockeres physisches Gemeinschaftsgefühl kann spontan auf der Stadtmatratze der Architektengruppe Raumlaborberlin in Selbsterfahrung genossen werden. Auch wenn diese in Wolfsburg nur halb so groß ist wie an ihren vorherigen Standorten und nun im Innen- statt im urbanen Außenraum liegt, persifliert dieses große Lotterlager aus Gummibällen und LKW-Plane Aktionskunstformen Wiener Provenienz der 1960er Jahre ebenso wie banale Hüpfburgen. Von dort aus lassen sich auch sehr bequem andere Exponate begutachten. So der Film der schwedischen Künstlerin Johanna Billing. Sie zeigt eine therapeutisch anmutende Situation – Personen, die in ungebundener Anordnung schweigend auf dem Boden liegen –, bis einem Teilnehmer dieser Zirkus zu viel wird und er flieht, zuerst in Gedanken, dann leibhaftig. Gemeinschaft ist also nicht immer und jedermanns Sache.

Der Brite Jeremy Deller bevorzugt eine andere Sicht. In seinem Wanddiagramm „History of the World“ zeichnet er eine Verbindung zwischen dem strammen Sound der gewerkschaftlichen Blechbläserkapellen der Bergarbeiter und ihren postindustriellen Nachfahren, den Musikkreationen des Acidhouse.

Dass Gemeinschaft nicht nur als kuschelige Affirmation, sondern auch als kollektiver Protest funktioniert, ist derzeit auch in Europa unübersehbar. Die Französin Bertille Bak ist für ihr aktuelles Video dazu jedoch nach Thailand gegangen. Es zeigt den optisch-akustischen Widerstand der Bewohner einer großen Abrissimmobilie. Ein politisches Protestlied, ins Morsealphabet übertragen, wird mittels Taschenlampenblitzen aus der gesamten Häuserfront heraus aufgeführt. Wenngleich umsonst, die Sprengung folgt.

Der Exklusion als durchaus kreativem Antrieb wiederum sind das türkische Künstlerkollektiv Oda Projesi, Raumprojekt zu Deutsch, und die Berlinerin Nadin Reschke nachgegangen. In einem dreiwöchigen Kursus in Kreuzberg sollten MigrantInnen eine neue gemeinsame Sprache zusammenschmelzen. Der Prozess ist auf sechs Kanälen dokumentiert. Pappschilder an der Wand zeigen eine Auswahl der neuen Wortschöpfungen und dürfen von den Besuchern durch eigene ergänzt werden.

Facetten vitaler Raumproduktion Marke Eigenbau hat die in den Niederlanden lebende Lara Almarcegui in St. Nazaire gefunden und fotografiert. Wenn schon der große Arbeitgeber vor Ort, die Werft, alles am Leben erhält, dann sind wohl auch seine Materiallager eine kollektive Ressource. Und daraus wird locker für den privaten Gebrauch entnommen und gewerkelt: Datschen, Garagen, ein kombiniertes Hunde- und Entenhaus mit zwei Etagen. In jedem Franzosen, so ließe sich das sehen, steckt immer ein kleiner Revoluzzer: fraternité toujours statt deutscher Baugruppen-Folkore. BETTINA MARIA BROSOWSKY

Die Ausstellung Communauté / Gemeinschaft ist noch bis zum 6. 2. 2011 im Kunstverein Wolfsburg zu sehen