: Volle Taschen, dicht verschlossen
FINANZEN Die Steuerschätzer stellen erneut höhere Einnahmen in Aussicht. Dennoch soll nicht mehr investiert werden
AUS BERLIN HANNES KOCH
Die Finanzminister in Deutschland sind in einer Luxussituation: Die Steuereinnahmen steigen erneut. Im Vergleich zur Steuerschätzung vom vergangenen November werden zwischen 2014 und 2018 rund 19,3 Milliarden Euro zusätzlich in die staatlichen Kassen fließen. Das gibt der Debatte neuen Schwung, wofür bislang nicht verplantes Geld verwendet werden könnte.
Wie der Arbeitskreis Steuerschätzung, ein Expertengremium von Bund, Ländern und Forschungsinstituten, am Donnerstag bekanntgab, werden die Einnahmen im laufenden Jahr zwar marginal gegenüber der letzten Prognose zurückgehen. Bund, Länder und Gemeinden verzeichnen ein leichtes Minus von 400 Millionen Euro. Zwischen 2015 und 2018 sollen die Steuereinnahmen dann aber erneut zunehmen. Der Bund wird insgesamt 7,1 Milliarden Euro mehr kassieren. Bei den Ländern sind es 10,5 Milliarden. Städte und Gemeinden werden dieses Jahr ein Minus von 600 Millionen Euro verzeichnen, 2015 und 2016 bei null landen, und erst 2017 und 2018 leichte Mehreinnahmen haben. Die Gründe für den Geldsegen liegen im soliden Wachstum, der hohen Zahl von Arbeitskräften und der leicht sinkenden Erwerbslosigkeit. Wenn Firmen und Bürger mehr verdienen, zahlen sie mehr Steuern.
Eigentlich sollten deshalb Mittel für Ausgaben vorhanden sein, die sonst schwierig sind, denkt man. „Die Steuerschätzung eröffnet uns keine neuen finanziellen Spielräume“, sagte Schäuble jedoch. Die Warnung vor zusätzlichen Ausgaben ist vor allem eine Reaktion auf die Steuersenkungsdebatte.
Dabei geht es gegenwärtig um die Minderung der sogenannten kalten Progression. Darunter versteht man automatische Steuererhöhungen, die die nachteilige Wirkung der Inflation nicht berücksichtigen. Ein Beispiel: Steigt der Lohn von Arbeitnehmern um 2 Prozent, wächst ihre Steuerbelastung ebenfalls leicht. Nun zehrt aber die Preissteigerung einen Teil des Lohnzuwachses wieder auf. Trotzdem zahlen die Bürger unter dem Strich etwas mehr Steuern, obwohl ihre Kaufkraft nicht in gleichem Maße gestiegen ist. Allein dieser Effekt bringt dem Staat Jahr für Jahr jeweils 2,5 Milliarden Euro mehr ein.
Die Union plädiert deshalb schon länger dafür, den Steuertarif zu senken. Eine Einigung mit der SPD in der großen Koalition war aber nicht möglich, weil die Sozialdemokraten im Gegenzug Abgaben für Wohlhabende erhöhen wollten. Nun denkt Schäuble über einen neuen Versuch nach: Möglicherweise wird er vorschlagen, den Effekt der kalten Progression einmalig auszusetzen – 2016, ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl.
Dazu ermuntert ihn wohl auch die Meinungsänderung an der SPD-Spitze. Neuerdings können sich Vizekanzler Sigmar Gabriel und sein Fraktionschef Thomas Oppermann vorstellen, die Minderung der Steuerprogression in dieser Legislaturperiode aus Überschüssen zu finanzieren – ohne Kopplung an Steuererhöhungen an anderer Stelle.
Eine gemeinsame Linie gibt es jedoch bisher nicht. CDU-Haushaltsexperte Norbert Barthle erklärte, dass ein ausgeglichener Bundeshaushalt ohne neue Schulden im Vordergrund stünde. Und Nordrhein-Westfalens Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) warnte, das Einnahmeplus sei nicht hoch genug, um gleichzeitig Schulden abzubauen, Steuern zu senken, „Straßen zu sanieren und die Bildung zu verbessern“.
Damit wies Walter-Borjans auf einen Aspekt hin, der in der Steuerdebatte oft untergeht. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) verschleißt die öffentliche Infrastruktur. Es fehlten Dutzende Milliarden Euro Investitionen jährlich, sagen die Ökonomen. Eine deutliche Erhöhung der Investitionsquote in seinem Haushalt – bisher beträgt sie weniger als 10 Prozent der Ausgaben – plant Schäuble jedoch nicht.