: Weltschau und Selbstbespiegelung
VORREITER Die Fokussierung auf das eigene Dasein und Sprachwitz prägen die Kunst von Timm Ulrichs. In Hannover richten ihm der Kunstverein und das Sprengelmuseum eine Retrospektive aus
VON MAIK SCHLÜTER
Gleich zu Beginn der Pressekonferenz von Timm Ulrichs’ Retrospektive „Betreten der Ausstellung verboten!“ in Hannover geht es um Geld und Reputation: Timm Ulrichs spricht darüber, dass die meisten der ausgestellten Arbeiten sich noch in seinem Besitz befinden, und die wenigen, die in Museen zu finden sind, hat er entweder verschenkt oder für einen „Appel und ein Ei“ verkauft. Bei allem Gelächter der Anwesenden spürt man Enttäuschung des Künstlers. Auch wenn ihm, der 1940 in Berlin geboren wurde und seit mehr als 50 Jahren in Hannover lebt, der Kunstverein Hannover und das Sprengelmuseum jetzt eine große Retrospektive zum 70. Geburtstag ausrichten.
Ulrichs hat in den vergangenen 50 Jahren ein vielfältiges und originäres Werk geschaffen, das mit dem Begriff Konzeptkunst nur teilweise definiert ist. Seine künstlerische Praxis umfasst Fotografie, Skulptur, textbasierte Arbeiten, Performance, Interventionen, Kunst am Bau, Video oder Installation. Ulrichs erfand dafür den Begriff der Totalkunst: Kunst und Leben sind für ihn deckungsgleich. Er folgt damit einem Konzept der historischen Avantgarde, das älter ist als er selbst.
Seine Selbstporträts im Kunstverein Hannover zeigen, wie geschickt Ulrichs’ Selbstbespiegelung und Weltschau, gesellschaftliche Perspektive und Introspektion miteinander verbinden kann. Historisch beginnt diese Auseinandersetzung 1961 mit der Arbeit „Timm Ulrichs, erstes lebendes Kunstwerk“. Ulrichs hatte diese Arbeit 1965 in Berlin zur Juryfreien Kunstausstellung eingereicht und wurde mit der einfältigen Begründung „der Mensch sei kein Kunstwerk“ abgelehnt. Ein Haltung, die Künstlern wie Gilbert & George, den Wiener Aktionisten, Santiago Sierra oder Elke Krystufek beharrlich den Kunststatus verweigert hätte. Hier zeigt sich früh das provokative und strategische Potenzial von Ulrich.
Konzeptuelle Schlüssigkeit beweist er mit dem „Autobiografischen Tagebuch“ (1972), das sein Dasein auf eine medizinisch-physische Faktizität reduziert und Aufzeichnungen wie EEG, CO2-Konzentration oder die Thoraxbewegungen dokumentiert. Das alles 24 Stunden lang und so umfänglich, dass daraus ein 2.800 Seiten starkes Buch wird. Riskanter und metaphorischer wird es, wenn Ulrichs zum lebenden Blitzableiter wird und bei Gewitter nackt über ein Feld wandert, eine meterlange Kupferstange auf dem Rücken („Menschlicher Blitzableiter“ (1977/79).
Sinn und Sinnlichkeit
Ulrichs’ Werk ist von einer strengen Konzeption, die durch die Fokussierung auf das eigene Dasein, Sprachwitz und analytisches Denken geprägt ist. Seine Arbeiten, seit Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein entstanden, leben auch vom sinnlichen Duktus der Konzeptkunst. Ulrichs schafft es, einen intellektuellen Ausgangspunkt anschaulich umzusetzen. Hier kann er absolut gleichziehen mit KünstlerInnen wie Gustav Metzger, Eva Hesse, Chris Burden, Richard Prince, Sophie Calle oder einigen amerikanischen Konzept- und Minimalkünstlern.
Dennoch ist Timm Ulrichs in vielen Nachschlagewerken nicht zu finden, seine internationale Reputation eher gering und sein Oeuvre nicht in den großen Häusern präsent. Das liegt vielleicht daran, dass es auch einige krasse Ausreißer gibt: Arbeiten, die kitschig und durchschaubar sind wie seine Möbelinstallationen oder die meisten der Modelle für Kunst im öffentlichen Raum, denen im Sprengelmuseum viel zu viel Platz eingeräumt wird. Geht man, von Timm Ulrichs geführt, durch beide Ausstellungen, wird deutlich, dass er als sein eigener Archivar, Promoter, Interpret und Anwalt den Weg seiner Kunst in den weltläufigen Kunstbetrieb eher verhindert als befördert.
Ein Gestus, der ermüdet
Timm Ulrichs’ Werk birgt viele Verweise und Verbindungslinien. Allerdings wird der Künstler nicht müde, immer wieder zu behaupten, der Erste und Einzige für die jeweilige Strategie gewesen zu sein. Ein Gestus, zumal wenn er öffentlich vorgebracht wird, der dem 70-jährigen Künstler nicht gut steht. Denn es ist völlig klar, dass keine Kunstform in den Händen eines einzelnen Künstlers reifen kann: Kontext, Ästhetik und Wirkung sind immer das Produkt eines historischen Ablaufs, bei dem es Vorgänger, Mitstreiter und Nachkommen gibt.
In „Kunst und Leben“ (1972) reproduzierte er aus Pornoheften Bilder, auf denen im Hintergrund bedeutende Kunstwerke als Dekoration zu sehen waren. Die explizit sexuelle Darstellung wird an den Bildrand gedrängt. Ausschweifung und bürgerliche Moral, Idealismus und Realismus, Fiktion und technische Reproduktion durchdringen einander. Eine Arbeit, die den feinen Humor eines Hans-Peter Feldmann besitzt und das mediale Gespür von Richard Prince.
Bei „Geld-Wechsel-Geld“ (1968/78) wird der Geldwert durch ein ständiges Umtauschen in eine andere Währung vernichtet: So benennt Ulrich nicht nur die absurden Auswüchse des Kapitalismus, sondern nimmt auch Strategien der Transformation, wie sie zum Beispiel der weitaus jüngere Simon Starling dekliniert, vorweg. Ein Schulterschluss Ulrichs’ mit der jüngeren Generation von KünstlerInnen scheint aber auch hier nicht möglich.
Die Arbeit „Das brechende Auge“ (1973), im Sprengelmuseum präsentiert, bestätigt Ulrichs’ Vorreiterrolle in Sachen konzeptuelle Reflexion medialer Wirklichkeit: Eine Feuerwippe wippt so lange, bis das Feuer sich auf eine Seite schlägt und eine dort filmende Kamera verbrennt. Der Akt der Selbstverbrennung wird aufgezeichnet und auf einen Monitor übertragen. Die Vernichtung und Verdoppelung von Realität durch technische Medien, der Kannibalismus der Technik werden brillant umgesetzt.
Insgesamt überzeugen die Foto- und Videoarbeiten im Sprengelmuseum am stärksten. Beide Ausstellungen geben einen guten Überblick, vernachlässigen aber das sprachlich-poetische Werk Ulrichs’, der immer wieder die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Sprache in seinen Arbeiten analysierte.
Wie die Kunstgeschichte Ulrichs’ Arbeit einmal bewerten wird, ist für die Gegenwart nicht von Belang. Wichtig ist, dass man sein Oeuvre ernst nimmt und dessen Relevanz für die zeitgenössische Kunst definiert. Das gelingt in Hannover, und deshalb lohnt sich ein Besuch ausdrücklich.
■ Bis 13. Februar 2011, Kunstverein Hannover/Sprengel Museum Hannover, Katalog (Hatje Cantz) 28 Euro