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Archiv-Artikel

Das Wetter und Weihnacht

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Das Schmelzen der Pole oder Warum das Denken im Advent unhöflich ist

Kerstin Decker

■ ist freie Autorin und lebt in Berlin. Ende Oktober erschien ihr neuestes Buch, „Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich“, im Propyläen-Verlag.

Diese Kolumne handelt von der Zeit und vom Klima. Schon wieder Advent, schon wieder Dauerfrost. Aber den hatten wir doch gerade. Advent, Zeit der Erwartung. Wir erwarten das Schlimmste: 12 Grad minus, morgen schon. War zwischendurch eigentlich Sommer?

Ich ergreife hiermit eine der letzten Gelegenheiten, daran zu erinnern, dass die Meteorologen uns das vielleicht wärmste Jahr seit Menschengedenken vorausgesagt hatten. Und dann lag diese steingraue Ganzjahresgrabplatte über uns, Euphemisten nennen sie noch immer Himmel. Nur einmal in diesem Jahr war da wirklich Himmel, einer, wie wir ihn so schnell nicht wieder sehen werden: garantiert flugzeugfreies makelloses April-Blau und keine Asche, nirgends.

Zum Zeitpunkt dieser Niederschrift sind minus zwei Grad. Ende November! Das haben wir nun von der globalen Klimaerwärmung. Es zieht eiskalt durch die alte Holzbalkonflügeltür neben meinem Schreibtisch. Mein Vermieter wollte aus der alten Tür schon lange eine vollisolierende Kunststoffbalkontür machen. Aber es gibt nichts Hässlicheres unter der Sonne. Dann lieber frieren. Unter der Sonne? Wir werden solch gedankenlose Wendungen aus besseren Zeiten noch überdenken müssen. Die Mieter im Dachgeschoss gegenüber hatten bis zum März im Dunkeln gesessen, weil auf ihren schrägen Kippfenstern eine monströse Schneewehe lag. Über Monate! Jetzt ist schon wieder eine kleine Kaum-Wehe da, eine Infinitesimalwehe gewissermaßen. Die Wehe wächst.

Streugut auffüllen

Wahrscheinlich müssen wir den Sommer neu definieren. Sommer ist die knappe Frist, die uns bleibt, unsere Streusalzbestände aufzufüllen. In diesem Jahr soll das schon viel besser gelungen sein als im letzten, vor der Klimawende. Damals glaubte noch keiner an den Winter. Natürlich könnte man versuchen, unseren Weg in die Tundra – an dieser Stelle wäre der Begriff der Tundrisierung Mitteleuropas zu erfinden – positiv zu interpretieren. Widerlegt der Halbjahresdauerfrost nicht die Klimaerwärmung? Nein, macht er nicht.

Die Meteorologen erklären das so: Das Abschmelzen der Pole bewirkt nicht nur das Überlaufen der Ozeane. Auch die Luft über den Polen beginnt anders zu zirkulieren. Kurz, wir bekommen die völlig falschen Luftmassen. Die Isländer haben nicht viel Grund zur Freude, erst explodierten ihre Banken, dann die Vulkane. Auch aßen sie aufgrund ihrer Lage ganz oben in der Geografie traditionell das ganze Jahr Svio, das sind abgesengte, gekochte Schafsköpfe, oder Selshreyfar, sauer eingelegte Robbenflossen. Und nun ist Island bereits Großschauplatz des garantiert biologischen Freilandgemüsebaus geworden. Bald wachsen dort noch Open-Air-Tomaten. Wann ziehen wir eigentlich an den Nordpol um?

Das Klima als Demütigung

Das Wetter ist die letzte große Demütigung des modernen, selbstbewussten Menschen. Das Wetter und Weihnachten. Auch das Fest passt nicht mehr zu uns. Zu totalitär, genau wie der Winter. Totalitär ist alles, was man nicht abwählen oder reklamieren kann. Oder seine entschiedene Nichtteilnahme daran erklären. Und die Weihnachtszeit beginnt – ich habe das genau beobachtet – bereits im Oktober. Da lagen die ersten Weihnachtsstollen und Lebkuchen in den Märkten. Vielleicht begann damals auch schon meine Jahresenddepression. Das war doch alles viel zu früh. Von zwölf Monaten sind fast drei Weihnachtszeit? Morgen, Kinder, wird’s was geben?! Plötzlich klingt das schöne Lied wie eine Drohung.

Und das macht traurig. In der weihnachtlichen Dunkelhaft sollen die Menschen näher zusammenrücken. Aber das kann man doch mit lauter praktizierenden Einzelnen nicht mehr einfach so machen. Fest der Familie. Manche sagen, auch unsere zeitgenössischen Familien- und Familienvermeidungsformen sind nicht mehr einfach kompatibel mit dem Modell Josefs und Marias. Doch das ist nicht wahr. Beide nahmen, katholisch gesehen, in durchaus kühner Weise den Trend zur späteren, demografisch problematischen Einkindehe vorweg, und auch die Patchworkfamilie darf sich biblisch vorausgeahnt fühlen: ein Kind, zwei Väter, ein leiblicher und der Jetztmann der Mutter. Es ist wirklich schwierig.

Aber Weihnachten lässt sich nicht widerlegen. Und ein purer Weihnachtsverächter wäre wie ein Kunststofffenster: seelenlos. Die großen Ungläubigen aller Zeiten haben das immer gewusst. Selbst Friedrich Nietzsche, dieser Muezzin von Gottes Tod – die Nachricht war längst überall angekommen, er fügte nur die tragische Komponente hinzu – hatte ein ernstes Weihnachtsproblem. Und da er auch einer der ersten Klimaflüchtlinge war – er fuhr grundsätzlich dorthin, wo er den reinsten, von keiner Wolke verunreinigten Himmel vermutete –, fand ihn die Weihnacht mitunter ganz allein in Italien. Man muss schon einen Übermenschen in sich tragen, um das auszuhalten.

Ein purer Verächter der Weihnacht wäre wie ein Kunstofffenster: einfach seelenlos

Leichtigkeit der Vernunft

Unsere geistigen Konturen sind inzwischen eher angelsächsisch. Und Gott ist der Common Sense. Für die Angelsachsen, die den Utilitarismus erfunden haben, lagen die Dinge immer schon einfacher. Die moderne Welt ist haltlos, Religion ist ein Halt. Sollte das nicht eine perfekte Ergänzung sein? Und die Werte gibt es noch gratis dazu. Zwar dürfte unsere Welt so ziemlich alle Kriterien erfüllen, die Jesus einst die Gewissheit gaben, das Gericht Gottes komme eher heute als morgen. Denken im Advent ist unhöflich. Und im Zweifelsfalle führt es geradewegs zu Nietzsches Solo-Weihnachten in Italien. Aber einen gibt es, der versteht sich wie kein anderer auf die Höflichkeit des Denkens, auch auf Jahresend-, Jahresmitte- und Jahresanfangsdepressionen. Und er hat noch vor dem Christkind Geburtstag, nämlich heute. Er besitzt jene Leichtigkeit der Vernunft, die Nietzsche sich so sehr gewünscht hatte. Welch wunderbare ungrundsätzliche Grundsätzlichkeit! „Gläubige sind Narren. Ich beneide sie“, hat er gerade in einem Interview gesagt.

Advent. Ja, da ist ein Licht im Dunkel, so viele Leinwandjahre schon: Herzlichen Glückwunsch, Woody Allen, zum 75. Geburtstag!