: „Bosou steht für Männlichkeit“
Aus der Liebe auf den ersten Blick wurde eine nicht enden wollende Leidenschaft: In Pétionville unterhält eine Schweizerin eine der größten Privatsammlungen von Voodoo-Kultgegenständen auf der Karibikinsel Haiti
VON HANS-ULRICH DILLMANN
Chaos empfängt den Besucher, als Marianne Lehmann mit klirrenden Schlüsseldrehungen die schwere Eisen- und die dahinter liegende Glastür öffnet. Schwere, staubige riesengroße Spiegel mit Schlangenornamenten an den Wänden brechen das Sonnenlicht, und im Halbdunkel macht der Besucher eine rotbetuchte Stofffigurengruppe mit Totenschädeln aus: Eine Voodoo-Geheimgesellschaft hat sich in diesen Puppen verewigt. Es ist kaum ein Durchkommen zwischen kleinen Särgen und Ritualmöbeln in dem lila gestrichenen zweistöckigen Steinbau in der Kleinstadt Pétionville nahe der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince.
„Manchmal sage ich mir, ich muss jetzt mal wirklich Ordnung in meine Sammlung bringen“, sagt die Schweizerin, die seit 1957 im Land wohnt. Im Laufe der Jahre hat die in den Schweizer Bergen geborene Madame Lehmann über 2.000 Figuren und Ritualgegenstände aus dem Voodookult zusammengetragen. „Meist waren es Angehörige von verstorbenen oder erkrankten Priestern, die in Geldnot steckten und deshalb die Figuren aus dem Tempel verkaufen wollten“, erzählt sie.
Alles begann mit einer kleinen Betonfigur, die ein Alträucher im Büro von Marianne Lehmann im Zentrum von Port-au-Prince aus einem Jutesack wickelte. Die Angestellte des Schweizer Generalkonsulats in Haiti war elektrisiert. „Diese Figur hatte eine unglaubliche, ihr innewohnende Anziehungskraft. Ich spürte, das war etwas Spezielles“, sagt die heute 70- Jährige.
Aus der Liebe auf den ersten Blick wurde eine nicht enden wollende Leidenschaft. Marianne Lehmann zeigt auf ihre erste Errungenschaft. Die etwa 40 Zentimeter große Gestalt aus gegossenem Beton krönen drei unebene, schwarz gefärbte Hörner. Zwischen den Zähnen hat die Statue eine dieser typischen Pfeifen, in denen auch heute noch einige haitianische Männer ihren Krümeltabak rauchen. Über die rote Lackfarbe des Mantels hat sich eine feine Staubpatina gelegt. „Papa Bosou ist einer der Geister aus dem Voodoo-Pantheon“, erklärt Marianne Lehmann. Ein störrischer Gesell mit einem feurigen Temperament. „Bosou steht für Männlichkeit.“
Hinter und neben Papa Bosou haben weitere Betonmännlein eng gedrängt Platz gefunden. Auch in den anderen Räumen finden sich Figuren, manche in Lebensgröße, gehauen in Holz, mit Ton geformt oder mit Eisen armiert und mit Beton beschichtet – zierlich abgemagert die einen, die anderen bullig und brutal. Regale biegen sich unter Dutzenden von ehemaligen Rum- Flaschen, die mit Tuch überzogen und mit winzigen Glitzerpailletten bestickten sind.
Aufgerollt finden sich Voodoo-Fahnen, auf denen die Symbole der einzelnen Gottheiten zu sehen sind. Totenschädel liegen in allen Ecken des Hauses, auf manchen befinden sich heruntergebrannte Kerzenstummel; dazwischen kleine Särge, die mit Spiegeln besetzt sind, Kreuze, die von Ketten umwunden sind. Im Hof hat Marianne Lehmann eine ganze Geisterarmee versammelt. Sie erinnern an die legendären Terra-Cotta-Figuren.
Die vom afrikanischen Kontinent in die Karibik verschleppten Zwangsarbeiter haben den Voodoo nach „Ayiti“, dem Land der Berge“, gebracht. Die Wurzeln von Voodoo finden sich in den afrikanischen Naturreligionen des 14. Jahrhunderts. 401 verschiedene Lwas, wie die Gottheiten in der haitianischen Landessprache Kreol genannt werden, gibt es im Voodoo-Pantheon. Sie werden 21 so genannten Nationen zugeordnet. Eine für Außenstehende wilde Mischung von Obergottheiten und Geistern, die die Geschicke der Menschen bestimmen und beeinflussen können.
Zuerst hat Marianne Lehmann die Devotionalien in ihrem Wohnhaus untergebracht. „Die Figuren standen überall herum. Zum Schluss konnte ich nicht mehr ins Bett kommen, ohne über irgendetwas steigen zu müssen“, sagt die 1996 pensionierte Mutter von vier Kindern. 1994 wurde das Privatmuseum dann in einem eigenen Haus schräg gegenüber dem Lehmann’schen Wohnhaus untergebracht. Aber auch dieses quillt längst schon über. Überall hat sich eine feine Staubpatina über die Ausstellungsstücke gelegt. „Ich muss wohl doch dringend mal putzen“, sagt Madame Lehmann.