: Im Schatten der riesigen Laurel-Bäume
Santo Domingo ist die erste Kolonialstadt in der „Neuen Welt“. Im kolonialen Stadtzentrum von Santo Domingo de Guzmán blieb trotz pauschaler Besichtigungstouren mit kollektivem Fotoshooting das soziale Leben und der Charakter der Stadt erhalten. Von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang
VON HANS-ULRICH DILLMANN
Langsam verfärben die Sonnenstrahlen das an der Strandpromenade Malecón nicht immer türkisfarbene Karibikmeer. Noch intensiver werden die Rottöne der Bougainvillea auf der bepflanzten Dachterrasse. Ruhe, eine vor allem tagsüber unbekannte Ruhe, so beginnt der Tag im kolonialen Stadtzentrum von Santo Domingo de Guzmán, manchmal unterbrochen von einem kurzzeitigen Motorradknattern und dem Klatschen der Zeitung, die die Austräger hinterlassen, wenn sie ihre druckfrischen Produkte auf die Balkone oder in die Hauseingänge werfen.
An der Ecke Calle Hostos mit der Calle Arzobispo Nouel stinkt die Fritteuse eines „fliegenden Händlers“ nach ausgebackener Salami und platt geklopften frittierten Kochbananen. Zwei Straßenecken weiter bilden sich erste Pfützen. Aus undichten Rohrleitungen fließt das Wasser die zu den Ruinen des ehemaligen Monasterio de San Francisco führende Hostos-Straße herab. Für ein bis zwei Stunden gibt es wieder Wasser im Zentrum – die ersten Pumpen beginnen zu surren, um das kostbare Nass in die Wasserreservoire auf den Dächern zu pumpen.
„Die Zona Colonial ist für mich das Herz der Stadt und eine einzige Inspiration für meine Bilder“, sagt José Cestero, kurz nach acht Uhr morgens auf der Terrasse des Café Colón. Überschattet werden die Tische von einem der riesigen Laurel-Bäume, die den Parque Colón begrenzen. „Noch immer habe ich das Bild des Zentrums aus den 50er-Jahren vor Augen“, sagt der 68-jährige Maler – und deshalb reproduziert er es in seinen Ölgemälden immer wieder. Gemächlich rührend zermalmt er die drei gehäuften Löffel Zucker in seiner Espressotasse. Erst nach endlosem Rühren probiert er den Kaffee. „Um diese Zeit spielen die Menschen noch nicht verrückt. Diese Besinnlichkeit brauche ich, bevor ich mich in meinem Atelier an die Arbeit mache.“
Es ist diese Morgenstimmung, die einen in ihren Bann zieht, jener Moment, wenn die Touristen sich noch nicht zum kollektiven Fotoshooting vor dem Kolumbusdenkmal mit der Kathedrale im Hintergrund gruppiert haben. Der Admiral und Entdecker einer „Neuen Welt“, die gar nicht so neu und vor allem längst schon von den Taínos bevölkert war, weist mit ausholender Geste gen Westen. José Cesteros Bilder finden sich in an den Wänden von fast allen Kneipen, Cafés und Mittagsrestaurants der historischen Innenstadt. „So begleiche ich meine Rechnung in der Stadt“, sagt der Maler.
Den DomRep-Besuchern aus den All-inclusive-Beach-Resorts bleibt dieses Santo Domingo verborgen. Sie werden aus den Bussen in die Kathedrale getrieben, in denen einst die Gebeine des Karibik-Entdeckers Kolumbus eingemauert waren. Sie hetzen durch die Fußgängerpassage El Conde vom Parque Colón zum Parque Independencia, wo sie sich zwischen hupenden Autos, fliegenden Händlern und dröhnender Merengue-Musik verlieren. Von dem Chaos sichtlich eingeschüchtert, machen sie sich bald wieder auf den Rückweg in den sicheren Bus. Oder sie suchen Schutz vor der Sonne unter den schattigen Kronen der Laurel-Bäume, wo inzwischen zwei bierbäuchige, mindestens 50 Lenze zählende Deutsche sitzen und mit zwei jungen, vermutlich kaum 18 Jahre alten dunkelhäutige Dominikanerinnen sprachlos Händchen halten. Jede und jeder in Gedanken versunken. Die Herren denken vermutlich an Sex, die Frauen an das Geld, das sie dafür bekommen. Vielleicht denken sie auch an die Chance, sich durch eine Heirat mit einem „Gringo“ aus dem sozialen Elend der Armutsviertel zu retten.
Ein Touristenführer hilft, die historischen Stationen des Ortes abzuklappern, in dem die Vizekönige residierten, die im Namen ihrer katholischen Majestäten die spanischen Länder in der „Neuen Welt“ regierten. Vom Ozama-Fort, wo noch bis in die 60er-Jahre die politischen Gefangenen des Landes zusammengepfercht und gefoltert wurden, schweift der Blick des Besuchers über die Mündung des Río Ozama. Und durch die Calle Las Damas, rechts und links von den ehemaligen Wohnhäusern jener gesäumt, die sich mit blutigem Schwert in der Eroberungsgeschichte des amerikanischen Kontinents verewigt haben, flanierten einst die feinen weißen spanischen Señoras y Señoritas.
Die große, fast baumlose Plaza España liegt unter der gleißenden Mittagsonne verlassen da. Erst abends kommen die Touristen, um mit Blick auf den ehemaligen Palast des Kolumbus-Sohnes Diego zu Bier oder Wein Serranoschinken zu bestellen. „Hier hat man die Sklaven hochgetrieben“, sagt Pedro, der kundige Begleiter. Er zeigt auf die zum Hafen hin abfallende Calle Atarazana, wo einst die Lagerhäuser und Verwaltungsgebäude lagen und heute ein Museum untergebracht ist, das die Schätze aus Schiffen präsentiert, die vor der Küste der Dominikanischen Republik gesunken sind.
„Atarazana“ haben Susanne und Bernie auch ihr kleines Hotel genannt. In keinem anderen Stadtteil der knapp drei Millionen Einwohner zählenden Stadt Santo Domingo hätten sie sich niedergelassen. Das „soziale Leben ist uns wichtig“, sagt Susanne. Zwei Ecken weiter finden sich noch alte Wandmalereien an den Häusern rund um die kleine Kirche Santa Barbara. Hier wohnten die Bohemiens der Stadt und versuchten neue künstlerische Ausdrucksformen.
Journalisten, Entwicklungshelfer, Künstler, Geschäftsleute und einen anderen Tourismus suchende Reisende treffen sich in dem kleinen Hotel-Patio mit dem winzigen Wasserbecken, in das man sich zur Abkühlung auch mal kurz setzen kann. Zimtstangen und Fruchtkerne sind auf dem Boden des Hausflurs verteilt und finden sich jeden Morgen in neuen Konstellationen, nachdem die Putzfrau sauber gemacht hat.
Sechs Häuserblocks und eine Parallelstraße weiter liegt die Casa de Teatro in der Calle Arzobispo Meriño – eine künstlerische Institution seit 32 Jahren. Nachmittags trifft der Besucher dort Freddy Ginebra. Genüsslich öffnet der Musiker eine Weinflasche und genießt die Ruhe dieser Tageszeit – bevor aus den Lautsprechern Merengue und Bachata dröhnen und sich vor den kleinen Eck-Colmados die Männer treffen, um sich einen Trago, einen Feierabend-Schluck, zu genehmigen. „Hier treten jene auf, die noch keinen Namen, aber Talent haben, und jene, die sich einen Namen gemacht haben und kommen, damit das Zentrum überlebt für die nachwachsenden Talente.“
Juan Luis Guerra hat hier die ersten selbst geschriebenen Lieder präsentiert. Aber seit der Pop-Merenguero mehr und mehr seine Lieder mit protestantischem Missionierungseifer verkündet, lässt er sich nicht mehr sehen. Er ist einer der wenigen, die bei Freddy Ginebra „fliegen gelernt haben“, aber ihre Wurzeln in der Stunde des Triumphes vergessen haben. Legendär sind die Abend, an denen arrivierte und junge Musiker nach der Vorstellung mit ihren lederbezogenen Baumstämmen samt Publikum trommelnd durch die Straßen der Altstadt ziehen. In der Casa de Teatro kann man immer die neuesten Werke von dominikanischen Malerinnen, Bildhauern und Experimentalfotografen bewundern. Und auf der kleinen Bühne im Patio kann der Besucher fast jeden Abend Live-Musik genießen.
Einen Steinwurf entfernt auf der Plaza Duarte haben sich inzwischen die ersten Jugendlichen zusammengefunden. Plastiktische werden zusammengerückt, Liebespärchen turteln auf den Eisenbänken, Dominosteine klackern. Bier und Rum liefert eine kleine Bude in einem Hauseingang. Als die Letzten sich zum Gehen entschließen, erscheint die Sonne schon wieder am Horizont, um in der Zona Colonial die Ersten zu wecken.