: Japaner schuften sich zu Tode
Der Inselstaat zählt in diesem Jahr 330 Fälle von totaler Überarbeitung. Ein neuer Rekord. Knapp die Hälfte der Betroffenen stirbt. Die Regierung will per Gesetz die Todesrate senken. Das wird kaum helfen, sagen Experten. Arbeit ist eine Frage der Ehre
AUS TOKIOMARCO KAUFFMANN
Am Hauptsitz eines der weltgrößten Elektronikkonzerne erschoss sich ein Manager um elf Uhr abends. Auf einem Abschiedszettel beklagte er sich über grausam lange Arbeitszeiten. Andere kollabieren nach 16-Stunden-Tagen auf dem Heimweg oder werden am Wochenende notfallmäßig ins Spital eingeliefert. Karoshi, Tod durch Überarbeitung, heißt das Phänomen auf Japanisch.
Japans Regierung hat letztes Jahr insgesamt 330 Karoshi-Opfer anerkannt. Neuer Negativrekord. „157 starben an Herz- oder Hirnschlägen, 42 begingen Selbstmord, die Übrigen haben überlebt, sind aber arbeitsunfähig“, rechnet Kenichi Inage vom Arbeits- und Gesundheitsministerium in Tokio vor. Die Dunkelziffer, sagen Experten, liege noch weitaus höher.
Verantwortlich sind die langen Arbeitszeiten. In Japan gilt die 40-Stunden-Woche. Doch wer um 23 Uhr nach Hause geht, zählt noch immer nicht zu den Letzten. Jeder Ministerialbeamte häuft pro Monat 39 Überstunden an, jeder Zehnte doppelt so viel. Ein 30-jähriger Angestellter von Toyota Motors, der im Februar 2002 zusammenklappte, hatte in den vier Wochen zuvor 140 Überstunden angesammelt.
Karoshi-Opfer sind in der Regel männlich, ledig, zwischen 30 und 40 Jahre alt. „Es sind die Sklaven unserer Zeit – Tag für Tag treibt man sie zu zusätzlicher Arbeit an und zahlt nicht dafür“, sagt Ichiro Natsume, Vizepräsident des Verbandes japanischer Arbeitsrechtler. Wer zusammenbricht, werde wie ausrangiertes Mobiliar weggeworfen. Der Verband hat eine Hotline eingerichtet, die von besorgten Ehefrauen und Müttern mit Anrufen überhäuft wird.
Japans erster Karoshi-Fall wurde vor über 40 Jahren registriert. In den 1990er-Jahren stieg die Zahl der Opfer rasant an. Japans Immobilien- und Börsenblase war geplatzt, die Unternehmen mussten abspecken. Mit ultralangen Arbeitszeiten bezeugten Angestellte ihre Loyalität zum Arbeitgeber und hofften, so der Schande einer Entlassung zu entkommen. Ungeachtet des Aufschwungs, den Japan seit der Jahrtausendwende erlebt, steigt die Zahl der Karoshi-Opfer weiter.
Ein Gesetzesentwurf, der 2007 ins Parlament kommt, soll die Unternehmen verpflichten, höhere Zuschläge auf Überstunden zu zahlen und ab 40 Stunden einen freien Tag zu genehmigen. Experten zweifeln, ob das hilft. Der Druck auf die Mitarbeitenden, weniger Überstunden aufzuschreiben, werde zunehmen. Und selbst wenn freie Tage per Gesetz angeordnet werden, müssten die Arbeitskräfte erst dazu gebracht werden, sie tatsächlich einzulösen. Von den vier gesetzlich garantierten Wochen Urlaub pro Jahr nehmen die Japaner nur die Hälfte in Anspruch.
Dies wird noch immer als Ausdruck der hohen japanischen Arbeitsmoral gedeutet. Doch werden Überstunden oft über sozialen Druck durchgesetzt. Wer sich abends früher als der Chef aus dem Staub macht, erntet schiefe Blicke. Die Sitzanordnung in japanischen Büros stellt sicher, dass solch unsoziales Verhalten dem Vorgesetzten nicht verborgen bleibt: Mitarbeiter haben den Chef buchstäblich im Rücken.
In verschiedenen Betrieben findet ein Umdenken statt. Nach dem Selbstmord des Abteilungschefs wurde untersagt, Sitzungen nach 21 Uhr einzuberufen. Dies erzählt ein Informatiker aus Tokio, der – selbstverständlich – ungenannt bleiben möchte.
Wie schwierig der seit Jahrzehnten kultivierten Arbeitswut beizukommen ist, illustriert Kenichi Inage: Der Beamte, der in Japan eine gesündere Work-Life-Balance populär machen soll, arbeitete in den letzten zwölf Monaten durchschnittlich 15 bis 16 Stunden am Tag.