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Archiv-Artikel

Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN Es lebe die Bescheidenheit

55 steile Stufen für neue Zigaretten und ein Nachttopf in den Tessiner Bergen – das ist wahrer Luxus

Heute will ich ein Loblied auf die Bescheidenheit singen. Damals im Osten ging es ja nicht anders: Wir mussten uns begnügen mit dem, was es gab. Es war eine Einsicht in die Notwendigkeit. Als Tugend habe ich das nicht empfunden – wir hatten keine Wahl.

Der Vorteil dieser unfreiwilligen Bescheidenheit war, dass man sich über kleine Dinge diebisch freuen konnte. Hatte Mutti beim Fleischer eine Schweinelende bekommen oder Papi im Konsum eine Kiste Saale-Unstrut-Wein, waren die Mühen des sozialistischen Alltags vergessen. Diese temporären Freudentänze werden schon lange nicht mehr aufgeführt. Aber seitdem es alles immer gibt, müsste man ja auch vor jeder Wurst- oder Käsetheke in Ohnmacht fallen. Hat man die Wahl, kann weniger auch mehr sein. So ist es zumindest in diesem winzigen Bergdorf im Tessin, wo ich für einige Wochen bin. Der Oberluxus ist, dass ich mich einige Monate beurlauben lassen kann, um ein Buch zu schreiben und meinen Lebensunterhalt in dieser Zeit mit einem Vorschuss vom Verlag finanziere. Wahnsinn.

Die Natur ist umsonst und überwältigend. Von meinem Bett aus geht der Blick durch eine Glastür auf die Berge, die herbstlichen Bäume und den Kirchturm. Manchmal weckt mich das Bimmeln der Glöckchen, die die Schafe um den Hals tragen, während sie im Dorf das Gras abfressen. Dann bleibe ich noch einige Minuten im Bett auf dem wärmenden Fell eines ihrer gehäuteten Artgenossen liegen, das ich gegen die nächtliche Kälte über die Matratze gelegt habe. Komme ich morgens in die Küche, sind es gerade mal zehn Grad. Doch ist das Holz gehackt, der Kamin entfacht und die Temperatur auf 15 Grad gestiegen, erscheint mir das geradezu tropisch. Vor lauter Freude über den bescheidenen Temperaturanstieg ist mir nach tanzen. Ich schalte den einzigen empfangbaren Schweizer Radiosender ein – und bekomme die passende Humptahumpta-Volksmusik.

Andere kleine Freuden finde ich im Garten und im Wald: Die letzten Äpfel, Trauben, sogar Feigen und auch noch Maronen. Brauche ich Zigaretten oder Wein, muss ich 55 steile Stufen hinunter zur kleinen Osteria steigen. Dort sitzt Tag für Tag die dicke, schweigsame Sonja und vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre von Werbeprospekten.

Schwieriger ist es mit dem Nachschub von Holz für den Kamin. Bei der Telefonnummer, die ich habe, geht nie jemand ran. Solange mache ich mich jeden Tag im Wald auf die Suche nach Brennmaterial. Habe ich die Tagesration zusammengesucht und die Holzstücke neben dem Kamin gestapelt, habe ich das befriedigende Gefühl, von meinen Lieben umgeben zu sein. Ist mir nach Gesellschaft, gehe ich rüber zu den Nachbarn. Das sind die Schwestern Linda und Sistina. 101 Jahre die eine, drei Jahre jünger die andere und beide äußerst bescheiden. Jeden Tag kochen sie noch selbst ihr Süppchen, manchmal auch Polenta. Außerdem machen sie einen hervorragenden Likör aus Salbei, den sie Medizin nennen. Ich hatte den Beiden Quittengelee von meiner Mutter mitgebracht. Einige Tage später fragte ich sie, wie es ihnen schmeckt. Sie sagten, dass sie es noch nicht geöffnet haben, weil sie noch ein angefangenes Glas haben. Das war mir aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters dann doch zu viel der Bescheidenheit. Ich bat sie, nicht zu lange mit dem Verzehr zu warten. Und wenn doch, sollten sie das Gelee in ihr Testament aufnehmen. Sie haben herzlich gelacht und noch eine Runde Medizin spendiert.

Es würde mich interessieren, wie die Schwestern ihre nächtlichen Geschäfte im Winter verrichten. Doch ich weiß nicht, was Nachttopf auf Italienisch heißt. Als ich als Kind die Ferien bei meiner Oma in einem Dorf in Sachsen-Anhalt verbrachte, konnte ich wählen zwischen dem Plumpsklo auf dem Hof und dem Nachttopf im Haus. Ich habe mich stets für den Nachttopf entschieden, weil der näher war. Hier in den Bergen gibt es zwar ein Bad mit allem Pipapo, aber um vom Schlafzimmer aus dorthin zu kommen, muss ich über steile Holztreppen durch die Kälte laufen. Da ist der Nachttopf eine luxuriöse Alternative.

Fragen zum Bergdorf? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch GERÜCHTE