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Archiv-Artikel

Der zitternde Engel

EXPLOSION Gesellschaftsporträt und feine Charakterstudie zugleich: Daniel Woodrell spürt einem Unglück nach. „In Almas Augen“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Niemand ist sich ganz sicher, was geschehen ist, nur dass etwas sehr Schlimmes geschehen ist, das wissen alle: Im Jahr 1929 wird die Arbor Dance Hall, das Vergnügungszentrum von West Table, einem Kaff in Missouri, von einer heftigen Explosion erschüttert. 42 Menschen finden den Tod; es gibt zahllose Verletzte. Die Explosion wird schnell zum mythisch überhöhten Geschehen; jeder hat etwas dazu zu sagen; es gibt sogar alte Menschen, die Jahrzehnte später auf dem Totenbett ein Geständnis ablegen, aber wofür eigentlich? War es ein Unglücksfall? Ein Anschlag? Leichtsinn?

Unmittelbar nach dem Vorfall wurde ein Mantel des Schweigens ausgebreitet, die Ermittlungen der Polizei wurden von den Mächtigen gezielt behindert. Nur ein Mensch glaubt ganz genau zu wissen, wer der Schuldige ist: Alma DeGeer Dunahew, seinerzeit Haushälterin bei einem reichen Bankier; eine Frau von dem Starrsinn naher Unerschütterlichkeit. Sie will sich nicht zum Schweigen bringen lassen, nicht zuletzt deswegen, weil ihre jüngere Schwester Ruby ebenfalls ein Opfer der Flammen geworden ist. Alma bezahlt für ihre Hartnäckigkeit mit dem Verlust des letzten Restes von sozialer Anerkennung: Sie verliert ihren Beruf, zwischenzeitlich auch den Verstand, landet auf der berüchtigten Arbeitsfarm – ein von der Gesellschaft pathologisiertes Wrack; eine Frau, die erst später, im Alter, wieder so etwas wie Frieden findet.

Daniel Woodrell, in Deutschland erst recht spät bekannt geworden durch seinen Roman „Winters Knochen“, hat einen scharfen Blick für die sozialen Demarkationslinien. „In Almas Augen“ ist ein Roman, der weitaus komplizierter gebaut ist, als es auf den ersten Blick scheint, und der sich trotzdem mühelos lesen lässt, weil Woodrell ein geschicktes erzählerisches Verfahren anwendet: Seine Mosaiktechnik legt ein zunächst verwirrend anmutendes Muster aus. Erst ganz am Ende ergibt sich ein schlüssiges Bild.

Woodrell springt nach Belieben in der Chronologie. Der Roman setzt ein im Sommer 1965, in dem Almas Enkel auf Drängen seines Vaters hin seine Großmutter in West Table besucht. Alexej (auch wie es zu diesem Namen kommt, erzählt das Buch in einer der vielen wundersamen und wunderbaren Episoden) ist derjenige, der die Geschichten zusammenträgt und sammelt; der Roman macht zwischendurch einen Sprung ins Jahr 1989, um ganz am Ende wieder im Jahr 1929 zu landen.

Und um die an einer Auflösung der Krimihandlung interessierten Leser zu beruhigen: Wenn schon niemand weiß, was an jenem Tag mit der Tanzhalle geschehen ist – zumindest die Leser erfahren es.

Doch ist das nicht das eigentlich Wichtige. Entscheidend ist, dass es Woodrell (dem ein reales Ereignis in seiner Heimatstadt West Plains als Auslöser für dieses Buch gedient hat) gelingt, in einer harten, klaren, zu keinem Zeitpunkt aufgesetzten Geschichte gleich mehrere Studien zu entwerfen. Zum einen die eines moralisch heruntergekommenen Amerika unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise. Zum anderen, und das ist weitaus überraschender, zeichnet Woodrell feine Porträts von Menschen und deren persönlichen und gesellschaftlichen Motiven, Zwängen, Interessenslagen.

Dabei kristallisiert sich heraus, dass es zwei Pole gibt, um die sich das Geschehen lagert; sie stehen gleichzeitig auch für unterschiedliche ökonomische Möglichkeiten, ohne dabei klischeehaft dargestellt zu sein. Zum einen Alma, der Vater ein Säufer, der spätere Ehemann ein Säufer. Früh muss sie Verantwortung für Ruby übernehmen, noch dazu bekommt sie drei Söhne, denen sie aus den Resten, die sie in der Küche ihres Dienstherrn zusammenklaubt, ein Abendessen zubereitet. Dieser Dienstherr ist sozusagen der Gegenpol und noch dazu die treibende Kraft: Arthur Glencross, ein Emporkömmling, der nicht gut, sondern sehr gut geheiratet hat, in ein Bankhaus und in eine ganz und gar freudlose Ehe hinein. Ein Mann, der sich geschickt in der Mechanik von Macht und Kapitalismus bewegt und den Anziehungskräften der schönen Ruby unterliegt, mit fatalen Folgen. Alma und Arthur sind heimliche Gegenspieler, zugleich in einem Abhängigkeitsverhältnis.

Von ihnen geht die Dynamik von Woodrells spannendem Roman aus, der bei aller Härte immer wieder überraschend Zärtlichkeit zu entfalten in der Lage ist: „Ich“, pflegt Alma zu sagen, wenn sie auf ihren Mann angesprochen wird (dessen Tod ebenfalls mit dem untergründigen Rhizom von Schuld, Eifersucht und Feigheit, das hier entfaltet wird, in Verbindung steht), „habe geliebt, was von ihm da war. Das tue ich noch immer.“ Mehr kann man nicht verlangen.

Sechzig Jahre nach dem Brand in der Tanzhalle kommt Alexej mit seinem Vater nach West Table. Unerklärlicherweise beginnt der Engel, der als Mahnmal für die nicht identifizierten Toten aufgestellt wurde, zu zittern. „Geh und sag es weiter“, sagt der Vater. Genau das hat Alexej getan.

Daniel Woodrell: „In Almas Augen“. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2014, 190 Seiten, 16,90 Euro