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Archiv-Artikel

Wie sag ich’s meinem Kinde?

ERINNERUNG Für den Psychoanalytiker Christian Schneider ist die herrschende Gedenkkultur in Deutschland überholt – eine Qual für die Jugend. Ein Gespräch im Holocaustmahnmal

Trauer ist ein Ablösungsprozess, um nicht psychisch zu erkranken, keine moralische Kategorie

VON PETER UNFRIED

Von Westberlin herüber scheint noch ein bisschen Sonne. Aber wenn man zwischen den Stelen des Holocaustmahnmals im Halbdunkel herumstiefelt, wird einem schnell kalt. Christian Schneider immerhin wird geschützt von einem bohemistischen Hut. Ein Geschenk seiner Frau. „Spüren Sie es?“, fragt er in den nächsten Stelengang rüber. „Man soll sich als Opfer fühlen, es gibt keine Täter hier, das ist das Fragwürdige dieses Denkmals.“ Wie hätte man es machen müssen? „Besser.“ Er lacht. „Man kann das nicht ernstlich beantworten.“

Gefühlte Trauer

Schneider und seine Mitautorin Ulrike Jureit haben eines der wichtigsten Bücher dieses Jahres geschrieben: „Gefühlte Opfer“ (Klett-Cotta-Verlag). Ihre These: Die Gedenk- und Erinnerungskultur in Deutschland wird seit Mitte der 60er Jahre bestimmt vom Generationenprojekt der 68er, in dessen psychologischem Kern der Holocaust steht, die Massenvernichtung der Juden durch die Deutschen. Sie durchzusetzen gegen eine schweigende Mehrheit im Nachkriegswestdeutschland war wichtig. Aber diese Gedenkkultur ist erstarrt und hat ein entscheidendes Problem, das Schneider zwischen den Stelen so beschreibt: „Wir sind die Nachfahren der Täter und vereinnahmen die Opfer als unsere, das ist eine Instrumentalisierung des Holocaust.“

Wir stehen vor einer doppelten Zäsur: Zum einen sterben die letzten Zeitzeugen, zum anderen sind jene, die die Erinnerungspostulate festgeschrieben haben, grade als Basisgeneration der Berliner Republik am Abtreten. Das heißt: Das Gedenken wird anders – so oder so.

Schneiders Sorge ist nicht, dass Abhaken oder Vergessen einsetzt. „Wir reden hier über kulturelle Eliten: Da ist die Unmöglichkeit des Vergessens tief verankert.“ Seine Sorge ist, verkürzt gesagt, dass Eltern oder Lehrer ihre Kinder auch im 21. Jahrhundert weiter „mit 68er-Moral quälen und dadurch deren genuines Interesse abtöten“. Schneider ist psychoanalytischer Sozialpsychologe in Frankfurt und gehört nicht zu denen, die 1968 verdammen. Er ist Jahrgang 1951 und erste Epigonengeneration. Alles, was er heute ad absurdum führt, hat er früher genau so gedacht. Er erlaubt sich nur, neu zu denken.

Es war wesentlich die Frankfurter Schule, im Grunde eine Handvoll Leute, die die Grundlagen der Gedenkkultur theoretisch begründeten: Die aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Sozialphilosophen Adorno und Horkheimer, der junge Jürgen Habermas, Margarete und Alexander Mitscherlich. Sie setzten das Neue mit Hilfe ihrer rebellischen Studierenden durch.

Weil deren Eltern ihnen nicht ihre Schuld an Nationalsozialismus und Judenvernichtung gestehen wollten, konnten sie sich nicht mit ihnen identifizieren und wichen in „Gegenidentifizierung“ aus: Die Kinder der Täter fühlten sich als „Opfer“. Opfer ihrer Eltern und des Staates, in dem man mit den Altnazis den Faschismus zurückkehren sah – und damit potenziell auch wieder Auschwitz. Christian Semler, ein führender 68er, hat in dieser Zeitung bezweifelt, dass es eine „Generationengemeinschaft des falschen Gedenkens“ gegeben habe, deren herrschendes Ritual die „Zwangsidentifizierung“ gewesen sei. Schneider sagt, es handele sich tatsächlich nicht um eine Zwangsidentifizierung, „höchstens um zwanghafte, aber eben unbewusste Identifizierungen: Warum heißen die Kinder der 68er David und Benjamin, Rebecca und Judith?“

Der zweite Irrtum dieser „opferidentifizierten Erinnerungskultur“ besteht für ihn darin, angeleitet von Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“, Trauer mit einer moralischen Norm zu verwechseln. Man klagte die Eltern mit dem Zeigefinger eines Opfers dafür an, nicht um die ermordeten Juden getrauert zu haben, und wollte das dann selbst übernehmen. Dabei konnten weder die einen noch die anderen die Opfer wirklich betrauern.

Unmoralische Trauer

Trauern kann man nach Sigmund Freud nur um einen wirklich geliebten Anderen, der Teil des eigenen Selbst geworden ist. Trauer ist ein Ablösungsprozess, um nicht psychisch zu erkranken, keine moralische Kategorie. Die Deutschen trauerten wohl, aber nicht um die Juden. Schneider verweist in diesem Zusammenhang auf Norbert Elias’ Satz: „Jeder trauert um seine Toten.“

Der nachgeborene Deutsche kann und muss auch keine Schuld übernehmen. „Es gibt diese unermesslich große Schuld. Aber wer als Nachgeborener in der ersten Person von Schuld spricht, baut sich einen moralischen Sockel, um erhabener zu sein als die anderen.“ Das moralisierende Über-Ich-Getue sei falsch. Es gehe für Nachgeborene darum, an diesem Teil der deutschen Geschichte „einen Anteil zu gewinnen“.

Wie hilft man seinen Kindern, ihren Anteil zu gewinnen? „Indem man nicht pathetisch und in sakralen Tönen darüber spricht.“ Wie erklärt man ihnen unsakral die Dimension des Holocaust? „Ihre Kinder sollen merken: Aha, das treibt den Vater ja sehr um. Dann beobachten Sie als Eltern das geweckte Interesse, machen Angebote zur Nachfrage.“ Am besten sei es, wenn man das mit der eigenen Geschichte verknüpfen könne. „Wenn die spüren: Für den ist das wichtig, weil mit seinem Großvater etwas war, dann wird Geschichte für Kinder lebendig.“ Generell gelte: „Wo Über-Ich war, soll Ich werden“ – also gelebte Moral statt Belehrung.

In diesem Zusammenhang beobachtet Christian Schneider die Ausrichtung auf neue moralisierbare Inhalte, die sich nicht mehr an der Vergangenheit orientieren (Adornos „Nie wieder Auschwitz“), sondern auf die Zukunft gerichtet sind. Schneider nennt das „Ökomoral“.