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Archiv-Artikel

Glitzerfummel für Lotterbuben

OPER In der Staatsoper im Schillertheater überführt Krzysztof Warlikowski Strawinskys „Rake’s Progress“ in die Ästhetik der Clubwelt

Anna Prohaska läuft mit ihrer begnadeten Präsenz Gefahr, den Rest des Ensembles zu deklassieren

Als „Karriere eines Wüstlings“ wird der Titel von Igor Strawinskys englischsprachiger Oper „The Rake’s Progress“ (1951) mitunter übersetzt. Sie erzählt von einem jungen Mann, der den Verlockungen und Lastern der Großstadt verfällt und daran zugrunde geht.

Inspiriert von einer Kupferstichserie des Engländers William Hogarth, nutzte Strawinsky die Bildergeschichte aus dem 18. Jahrhundert auch in ästhetischer Hinsicht als Vorlage. Das zeitgenössische, formal freiere Musikdrama war dem Komponisten ein Graus; er orientierte sich bewusst an der Opernwelt Mozarts oder Verdis mit ihrer Abfolge in sich abgeschlossener musikalischer Nummern.

Der polnische Theaterregisseur Krzysztof Warlikowski, dessen Pariser Tennessee-Williams-Inszenierung „Un tramway“ erst kürzlich in Berlin zu sehen war, hat mit Strawinskys „Rake“ seine erste Inszenierung an der Staatsoper vorgelegt. Da Warlikowski schon mit Operninszenierungen in Brüssel für Aufsehen gesorgt hatte, war seine Berliner Produktion mit Spannung erwartet worden. Gegen so hohen Erwartungsdruck zu arbeiten ist nicht leicht; und Warlikowski hat sich zumindest sehr anständig aus der Affäre gezogen. Die Aktualisierungsidee, die ihm zu der alten Lotterbubengeschichte eingefallen ist, besitzt zudem so starken Berlinbezug, wie man sich nur wünschen kann.

Ganz in die Ästhetik der Clubszene getaucht erscheint die glitternde, trügerische Opern-Großstadt, bevölkert von brünftigen Gestalten im stylish-trashigen Outfit von Nachtwelt-Axolotln mit schwer zu definierender Gender-Identität. Dass Tom Rakewell sich so leicht von dieser Welt verführen lässt, erklärt die Inszenierung, indem sie die scheinbar heile Gegenwelt, in der Toms Verlobte Anne Trulove lebt, in den ländlich-bigotten amerikanischen Westen verlegt. Tom und Anne lieben sich, doch Annes Vater (Andreas Bauer) herrscht mit machohaft eiserner Faust, pflegt eine eher zweideutige Beziehung zur Tochter und scheut sich nicht einmal, Jesus höchstselbst mit Fäusten zu malträtieren. Dessen Gesicht hat die Regie auf einen Sandsack malen lassen. Später am Abend wird auch noch eine Christusfigur mit leuchtender Dornenkrone zwangsversteigert werden.

Man mag argumentieren, dass Jesus ruhig als Gegensymbol mitspielen solle, wenn Strawinsky doch eh schon mit einer Teufelsfigur in Gestalt von Toms vermeintlichem Förderer Nick Shadow arbeitet. Und doch ist man disponiert, zumal kurz vor Weihnachten, auf die Instrumentalisierung christlicher Symbolik zur Demonstration ethischer Problemstellungen mindestens so allergisch zu reagieren wie auf die Darstellung homo- und transsexueller Geschlechtsidentitäten als Inbild der Verderbtheit und Kontrast zur Reinheit der Liebe zwischen Tom und Anne. „Baba the Turk“, die Halbweltdame, die Tom heiratet, wird dargestellt als bärtiger Transsexueller, gesungen von einem Countertenor. Im weiteren Verlauf der Handlung werden Baba und Anne sich einander annähern, wofür Strawinsky ein lyrisches Duett und Warlikowski Bilder der innig-erotischen Eintracht findet. Die vermeintlichen Gegensätze lösen sich auf in wahrer Empfindung; zum Glück. Ob es dies war, worauf die Inszenierung aus ist, bleibt unklar.

So oder so sind Tom Rakewells Frauen die Stars des Abends. Nicolas Zielinski als Baba verleiht seiner Figur solche Glaubhaftigkeit, dass man trotz des Bartschattens eine Frau zu sehen – sogar zu hören – meint. Und das neben einer überragenden Anna Prohaska als Anne, die mit ihrer begnadeten stimmlichen und darstellerischen Präsenz ganz nebenbei Gefahr läuft, den Rest des Ensembles zu deklassieren. Daneben hat es Florian Hoffmann als Tom schwer, Eindruck zu hinterlassen. Auch wenn er sehr solide agiert, steht ihm doch mit Gidon Saks als Nick Shadow ein allzu jovialer Widerpart gegenüber, dem das Diabolische zu sehr abgeht, als dass sich in dieser Männerbeziehung Spannung entwickeln könnte.

Die Staatskapelle unter der Leitung von Ingo Metzmacher dagegen steht hundertprozentig unter der Spannung der vielen Fäden, die der Maestro, mit allen zehn Fingern dirigierend, spinnt. Sein Gebärdenalphabet für fortgeschrittene Klangkörper formt ein Minidrama für sich, sodass der Blick in den Orchestergraben mitunter stark vom Bühnengeschehen ablenken kann.

KATHARINA GRANZIN

■ Nächste Vorstellungen: Mi. 15. 12., 19 Uhr, Sa. 18. 12., 19.30 Uhr