: Nicht verwerflich genug
Eine Nötigung – aber nicht rechtswidrig: Die Staatsanwaltschaft Bremen stellt ein Verfahren gegen drei Lehrerinnen ein, die ein behindertes Kind regelmäßig in ein altes Klo verfrachtet haben sollen
VON JAN ZIER
Was ist „verwerflich“? Verwerflich ist, so sagen es JuristInnen, was „sozial unerträglich“, „grob anstößig“ und „sozialethisch in besonders hohem Maße zu missbilligen ist“. Nicht verwerflich ist es dagegen, ein behindertes Kind regelmäßig und gegen seinen Willen in eine ausrangierte Toilette zu verfrachten, weil es den Unterricht stört. Sagt jedenfalls die Bremer Staatsanwaltschaft. Und stellte jetzt ein Verfahren gegen drei Lehrerinnen der Grundschule Rönnebeck ein, denen genau das vorgeworfen wird. Begründung: Es bestehe kein hinreichender Tatverdacht, eine Verurteilung wegen Nötigung, Freiheitsberaubung oder Misshandlung Schutzbefohlener sei eher unwahrscheinlich.
Zwar erfüllten Elisabeth K., Carola V. und Melanie K. durchaus den Tatbestand der Nötigung, das schreibt auch die Bremer Staatsanwaltschaft. Doch „rechtswidrig“ wäre dies nur, wenn es von JuristInnen auch als „verwerflich“ anzusehen ist. Indes habe der Junge „in erheblicher Weise“ den Unterricht gestört, listet Staatsanwältin Lydia Richter auf: Bauklötze seien da geflogen, Scheren auch. MitschülerInnen wurden geschlagen, ihre Sachen zerstört. Und weiter: Für den Unterricht war es „unverzichtbar, dass das Kind den Klassenraum ‚zum Abreagieren‘ kurzfristig verlässt“.
Mehrmals täglich, räumten die Lehrerinnen ein, brachten sie ihn deshalb in eine stillgelegte Toilette. „Das ist einfach menschenverachtend“, sagt seine Mutter. Und es war wohl auch kein Einzelfall: Über mehr als sechs Wochen sei das so gegangen – ohne dass die Eltern davon erfahren hätten. Inzwischen ist das schon wieder gut zwei Jahre her, im Januar vergangenen Jahres bereits stellte die Mutter Strafanzeige gegen die Schule. Und doch dauerte es bis April diesen Jahres, ehe der Junge erstmals vernommen wurde.
Staatsanwältin Richter findet die pädagogische Maßnahme „aufgrund der gewählten Örtlichkeit“ zwar „nicht wünschenswert“. Strafrechtliche Relevanz erkennt sie jedoch nicht. Die bremische Schulbehörde sprach derweil von einem „unglücklichen Umstand“. Einen anderen „Ruheraum“ habe es wegen Umbauarbeiten an der Schule jedoch nicht gegeben.
Zugleich widersprachen die Beschuldigten der Vorstellung, der Junge sei „eingesperrt“ worden. Es sei immer eine LehrerIn im Raum gewesen, sagten die drei übereinstimmend der Staatsanwaltschaft. „Diese Einlassungen lassen sich nicht widerlegen“, sagt Richter – auch nicht mit Hilfe des Opfers. Der Junge selbst hat ausgesagt, dass die LehrerInnen „ein bisschen mit in dem Raum und ein bisschen in dem Flur“ gewartet hätten.
Der Junge ist zu 80 Prozent schwerbehindert. Er leidet unter schweren Sprachstörungen, ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben, galt zudem als verhaltensauffällig. Seine Klasse in der Grundschule Rönnebeck war eine Integrationsklasse mit insgesamt vier Förderkindern und einer zusätzlichen Sozialpädagogin. Noch immer ist der Schüler in traumapsychologischer Behandlung, hat nach Angaben seiner Mutter schwere Schäden davon getragen. Das belege auch ein psychologisches Gutachten „sehr eindeutig“.
Bei der Bremer Staatsanwaltschaft sieht man das ganz anders: Welche „Ereignisse“ seine Leiden verursachten, lasse sich nicht eindeutig beweisen. Schließlich habe der Junge in der Schule „vielerlei Probleme“ gehabt. Eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin hatte ihm „vor dem Hintergrund wiederkehrender Ereignisse“ eine „tief gehende Verzweiflung“ attestiert.
Der Anwalt der Familie, Philip Koch, zeigte sich von der Entscheidung der Staatsanwaltschaft „überrascht“ – und kündigte umgehend an, Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft einzulegen. Diese könnte zumindest anordnen, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden.
Der Junge geht unterdessen auf eine spezielle Förderschule. Dort, erzählt seine Mutter, „werden zwar höhere Anforderungen an ihn gestellt“ als ehedem in der alten Schule. „Dennoch ist er jetzt ein unauffälliger Schüler.“