: Weise wie Rürup
Das neue Herbstgutachten ist da. Aber wie kam es zustande? Eine Wahrheit-Reportage
Wie entsteht eigentlich ein Herbstgutachten? Diese Frage haben sich vermutlich Millionen von Steuerzahlern schon einmal gestellt. Dieser Tage nun gab der rüstige Rentenexperte und Oberwirtschaftsweise Bert Rürup der Wahrheit erstmals Einblick in seine Erhebungstechnik.
„Hereinspaziert, hereinspaziert“, lotst uns der Chefkoch in seine Gerüchteküche, „es ist schon alles angerichtet!“ Das glauben wir ihm gerne, wenn man bedenkt, was er und seine Freunde alle Halbjahr so anzurichten pflegen. Auf der Arbeitsfläche befinden sich ein frischpolierter Wirtschaftsklimaindex, die Vorabdankesschreiben der Wirtschaftsverbände, ein Rechenschieber und eine Bananenkiste voll Statistiken. Von der Deckenlampe baumelt ein Börsenbarometer mit Echtzeitkontrolle. Der Zeiger weiß nicht wohin. Ein Blick zum Mülleimer zeigt dagegen an, dass die Arbeitslosenzahlen keine große Rolle spielen.
Dann geht der Rentenpapst behände in die Knie und holt aus der Besenkammer ein quirlartiges Gerät hervor. „Meine eigene Erfindung! Selbst die Kollegen wissen nichts davon. Nennen Sie es einfach den ‚Rühr Up‘. Da muss ich nur noch den Schnetzelaufsatz überstülpen und … Ach, reichen Sie mir doch bitte die Bananenkiste hier auf die Arbeitsfläche!“ Gerne sind wir der Wissenschaft behilflich und sehen, wie der Datenzauberstab in Windeseile aus den Kurven der unzähligen Statistiken liniendünne Streifen macht. „Hackfleisch sozusagen!“, ergänzt der Wirtschaftsweise süffisant. Überrascht wollen wir wissen, ob nicht ein ganz normaler Aktenschredder genügen würde. „Halt, halt!“, belehrt er uns, „die Daten sollen ja nicht zerstört, sondern nur kursbereinigt werden. So viele Kurven und Parameter, wie da noch drin sind, lassen sich unmöglich berechnen. Aber wenn man nur noch Geraden übrig hat, geht das ganz fix. Und dann habe ich noch meinen Rechenschieber, mit dem ich sogar Prozentaufgaben lösen kann. Außerdem kann ich die Papierchen hinterher noch an Firmen verkaufen, die sie als Lohnstreifen nutzen“.
Langsam beginnen wir zu verstehen. Große Erfindungen sind immer einfach. Da aber kommt ein säuerlicher Ausdruck in Rürups Miene. Die mit dem Zeigefinger genommene Geschmacksprobe scheint ihm nicht zu munden. „Ach ja!“, schlägt er sich mit der nicht belutschten Hand an die Stirn, „ich brauche ja noch das Gegengutachten vom Kollegen Bofinger. Ohne den schmeckt’s immer fad. Ist sozusagen das Salz an der Suppe!“ Mit wiedergefundener Fröhlichkeit hüpft er ans Telefon und lässt sich ein paar Zahlen durchgeben. Die schmeißt er, auf einem Backpulverpäckchen notiert, in den Karton und schnetzelt kräftig nach. Der zweite Finger schmeckt dann schon besser. „So, jetzt geben Sie mir bitte die Küchenwaage und stellen die Skala wegen des Goldpreises auf Feinunze und helfen mir, möglichst viele von den Schnipseln auf die Wägefläche zu stapeln. Aber Vorsicht, man darf die Wirtschaft nicht zu sehr belasten. Es gibt immer einen Punkt maximaler Zumutbarkeit. Dann hört das Wachstum auf und fällt vom Tisch.“
Wie beim Töpfern formen wir mit unseren Händen eine Schale um die Goldwaage und schaffen 1,8 Kilo Schnipsel. Rürups sichtbarer Stolz teilt sich auch uns mit, und während wir die Schnipselstützen lösen und der Küchentisch von Streifen übersät ist, hat der Meister schon seinen Rechenschieber geschnappt und zieht die Zunge bis zum Anschlag heraus. „Das Tolle an dem Ding ist, dass nirgends Kilo draufsteht. Also behelfen wir uns mit einer Hilfsgröße. Und da kommen die Prozent ins Spiel. Wir haben also statt 1,8 Kilo nun 1,8 %. Und das an Wirtschaftswachstum!“ Wir sind verblüfft und bekommen langsam eine Ahnung, warum die Prognosepräzision zuletzt ein wenig auf der Strecke blieb. „Oder glauben Sie mir etwa nicht?“, fängt er unsere zweifelnden Blicke am Telefon ab, durch das er die neuen Zahlen gleich an die Bundesdruckerei durchgibt, damit die Gutachtenexemplare bei der Präsentation schon vorliegen. „Natürlich muss die Waage stimmen, aber da sie frisch geeicht ist …“ – er geht noch einmal rasch zu ihr hinüber, um plötzlich zu erschrecken: „Ja, wenn Sie natürlich auf Unze eingestellt haben, dann müssen wir beim Wachstum doch noch drei Nullen dranhängen!“ Wieder rennt er zum Telefon, um den Druckauftrag zu stornieren. Aber es ist bereits zu spät. Die Rotationsmaschinen rollen schon. „Na ja“, fängt sich der Weise erstaunlich schnell, „wir haben ja noch die ganzen Vorjahresexemplare. Ich nehm sie immer mit nach Hause, weil sie nie wer haben will. Da brauchen wir bloß aus der 5 beim Jahr eine 6 zu machen!“
Und gerne sind wir auch in diesem Fall behilflich und zufrieden, endlich eine Erklärung dafür zu haben, warum sich die TippEx-Aktie – seit es die Wirtschaftsweisen gibt – von einem Zehnjahreshoch zum nächsten rubbelt. REINHARD UMBACH