: Die Faszination des großen Verbrechers
Sie bereiten uns große Sorge und brauchen viel Betreuung: die Wölfe und die Schurken. Die einen stellen mit ihrer Liebe zu Hunden das ökologisch korrekte Bewusstsein in Frage, die anderen führen in die Barbarei. Eine Analyse des Wolfsjahres 2006 mit Unterstützung von Jacques Derrida
VON HELMUT HÖGE
Die neudeutschen Wölfe leben an der Peripherie – in Reservaten an der Oder-Neiße. Die Linken machen sie daneben auch in den Siedlungen im Osten aus, zumal die dortigen Neonazis sich selbst gerne „Wölfe“ nennen, der Verfassungsschutz spricht von „Wölfen im Schafspelz“. Man kann diese Spezies aber auch im Zentrum entdecken. In Westberlin wurden die von der Studentenbewegung zurückgelassenen „Plätze der Öffentlichkeit“ sukzessive von Touristen, Händlern, Vereinsamten, Missionaren, Querulanten, Irren, Obdachlosen, Fixern, Kinderfickern, Punkern, Halbprostituierten, Trickdieben, Schmugglern und Raubmördern zu ihrer „Agora“ umfunktioniert.
In seinem letzten – 2006 auf Deutsch erschienenen – Werk „Schurken“ schreibt Jacques Derrida: „Der Schurke – englisch ‚rogue‘, französisch ‚voyou‘ – ist immer der andere, stets derjenige, auf den der rechtschaffene Bürger, der Vertreter der moralischen oder rechtlichen Ordnung, mit dem Finger zeigt.“ Bereits Flaubert „erfand“ den Begriff der „voyoucratie“ (Schurkenstaat).
Vom Wege abgekommen
Das Wort „voyou“ steht in entscheidender Beziehung zum Weg „voie“: „vom Wege abgekommen“ und „auf den Strich gehen“. All das gehöre noch „gleichsam in den Fußstapfen eines Baudelaire, Benjamin oder Aragon“. Die heutigen Schurken sind laut Derrida „beschäftigungslos, manchmal arbeitslos, und zugleich aktiv damit beschäftigt, die Straße zu okkupieren, entweder nichtstuend, ‚das Pflaster zu treten‘ oder etwas zu tun, was man normalerweise, nach den Normen, nach Gesetz und Polizei nicht tun darf auf den Straßen und allen anderen Wegen – die durch die Macht der Schurkenherrschaft unwegiger und unsicherer werden.“ Sie ist „eine Art Gegenmacht“, ein „Milieu“.
Der „voyou“ – das ist auch ein „Macker, ein Frauenheld“, und die „voyoute“ eine „Frau von schlechtem Lebenswandel“. Der Oxford English Dictionary spricht von „a dishonest, unprincipled person“. Daher die Ausdehnung der Bedeutung dieses Begriffs, bei Shakespeare sowohl wie bei Darwin, „auf jedes nichtmenschliche Lebewesen, auf Pflanzen oder Tiere, deren Verhalten abweichend oder pervers erscheint. Alle wilden Tiere lassen sich als ‚rogue‘ bezeichnen, besonders aber bösartige Einzelgänger.“
In Frankreich kann man sich noch an den berühmten einzelgängerischen Wolf „Die Bestie von Gévaudan“ erinnern, der ab 1764 immer wieder kleine Kinder tötete und auf Seiten des Souveräns eine ganz neue Institution begründete: die „Luvetiers“ (Wolfsjäger), die einen Wendepunkt in der Geschichte zwischen Wolf und Mensch bedeuten. Am Ende starben in drei Jahren 101 Menschen und auf der anderen Seite 200 Wölfe. Dahinter stand eine partisanische Niederlage: Zum einen wurde im Gévaudan nach dem „Aufstand der Kamisarden“ das Waffenverbot für die Bevölkerung besonders strikt gehandhabt, und zum anderen hatte man hier die gemeinwirtschaftlichen Strukturen aufgelöst, u. a. auch die großen Herden, die von erwachsenen Hirten mit scharfen Hunden bewacht wurden. Stattdessen wanderten nun Kleinstherden unter der Obhut von unerfahrenen Kindern umher – in einer bergigen, wenig besiedelten Gegend, die dem Wolf gute Chancen für Angriffe und Flucht bot.
Selbst Derridas Seminar über diesen ganzen Komplex wurde „von Wolfsrudeln aus allen Ecken der Welt heimgesucht,“ meint er. Es hieß „Das wilde Tier und der Souverän“ (2003) und war „weitgehend eine Lykologie, eine genealogische Theorie des Wolfs (lykos), der Figuren des Wolfes und aller Werwölfe in der Problematik der Souveränität. […] Bei der Übersetzung der ‚Bekenntnisse‘ von Rousseau ins Englische hat man das Wort ‚loup-garou‘ nicht mit Werwolf, sondern mit ‚outlaw‘ übersetzt –‚ der Gesetzlose‘. Von der amerikanischen Administration wird der ‚outlaw‘ häufig als Synonym von ‚rouge‘ im Ausdruck ‚Schurkenstaat‘ verwendet, indem von ‚outlaw Nation‘ die Rede ist.“
Ausgehend von der Fabel „Der Wolf und das Lamm“ von La Fontaine könnte der Wolf – als Schurke – „auch einer jener ‚großen Verbrecher‘ sein, die Walter Benjamin so faszinierten, weil sie – wie er in seiner ‚Kritik der Gewalt‘ erklärt – den Staat herausfordern. Indem er sich eine Gegensouveränität anmaßt, stellt sich der schurkische ‚Großverbrecher‘ mit dem souveränen Staat auf gleiche Augenhöhe, er wird zum Gegenstaat …“
Der Schurke
In Russland hat man solche Großschurken immer verherrlicht – und gegen das Zarentum in Anschlag gebracht: beginnend mit den Volksaufständen von Stepan Rasin, Jemeljan Pugatschow und dem tschetschenischen Anführer Imam Schamil. Alexander Solschenizyn meint, dass die fortdauernde literarische Verbrecher-Verherrlichung – beginnend mit Puschkin und erst recht durch die kommunistischen Schriftsteller, denen die Schurken – im Gegensatz zur Intelligenzija – sogar als „klassennah“ galten, wesentlich zu dieser anschwellenden Flut von Schurkentum beigetragen habe, unter dem das Land bis heute leide. Dort werden ständig die Wolfs-Abschussprämien erhöht.
Während sich diesseits der Oder die Wölfe fröhlich vermehren, wie die Mitteldeutsche Zeitung 2006 berichtete: Schon mehrfach wurden an der Oder „einzeln herumstreifende Jungwölfe von Autos überfahren“. In einem Artikel über die „Rückkehr der Räuber“ titelte die Süddeutsche Zeitung: „Biologen fordern Regeln für den Umgang mit Wolf und Bär“. U. a. kam dazu die Leiterin des neu eingerichteten „Kontaktbüros Lausitzer Wölfe“ – Jana Schellenberg – zu Wort: „Wir können die Akzeptanz der Wölfe nur fördern, wenn wir ehrlich und sachlich sind.“ Dies deutet nach der Erschießung der letzten Wölfe in Mitteleuropa auf einen abermaligen „Wendepunkt in der Geschichte von Wolf und Mensch“ hin: Jeder „Schurke“ bekommt nun mindestens einen qualifizierten Betreuer zugeteilt. Der soll ihn jedoch nicht, wie noch die königlichen Wolfsjäger – bis hin zu den Partisanenvernichtungseinheiten – einfach liquidieren, sondern im Gegenteil: die Öffentlichkeit über sein ökologisch sinnvolles Tun aufklären, ja, die Menschen davon abhalten, ihn zu stören.
Zu den Hunden
In seinem eigenen Interesse müssen sie ihn auch noch in seiner Rassereinheit schützen – erhalten, d. h. verhindern, dass er sich per Fortpflanzung langsam, aber sicher hybridisiert und damit selbst wegzüchtet. Die FAZ schreibt: „Zu den Aufgaben der drei Lausitzer Wolfsfrauen gehört es auch, darüber zu wachen, dass in der Region kein ‚Problemwolf‘ heranwächst.“ Damit sind keine „Bestien“ oder „Riesenwölfe“ mehr gemeint, sondern „Wolf-Hund-Mischlinge“: „Wolfshybriden sind eine echte Gefahr für die Arterhaltung der Wölfe und die Umwelt. Sie gefährden das ökologische Gleichgewicht. Anders als reinrassige Wölfe wandern sie nicht nach 22 Monaten aus dem Revier ihrer Eltern ab, sind viel früher geschlechtsreif, neigen zur Verpaarung mit Haushunden und verhalten sich anders als Wölfe. […] Hybride haben nicht wie der Wolf die ökologische Funktion eines Schalenwild-Regulators. Zwischen Wolf und Haushund liegen nun einmal 16.000 Jahre Domestikation‘, sagt Jana Schellenberg.“
Kritik an einer solchen „Wolfs-Politik“ kommt u. a. von Neal Ascherson, der den „Oderbruch“ durchstreifte – und darüber in Le Monde diplomatique berichtete: „Grüne Aktivisten, aber auch Regierungen, die sich für die ‚Entwicklung‘ der natürlichen Ressourcen verantwortlich fühlen, stoßen bei ihrem Bemühen um die ‚Rettung der Umwelt‘ immer wieder auf irritierende Fragen. […] Denn es ist keineswegs eindeutig, wie die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt zu verstehen sei. […] Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Mensch zum ‚Treuhänder für die natürliche Schöpfung‘ bestellt sei. Dies klingt nach guten Absichten und bewirkt in der Praxis häufig Positives, und doch drückt sich darin der alte anmaßende Anspruch der menschlichen Gattung auf den Status eines über der Natur stehenden Souveräns aus. Seltsamerweise klingt dieses Dogma auch in gewissen Aspekten des ‚grünen‘ Denkens wieder an, wenn es nämlich behauptet, die Menschen seien für alles verantwortlich, was im Meer und in Seen und Flüssen ‚schiefgeht‘, zum Beispiel für die Vermehrung oder das Verschwinden einzelner Tier- und Pflanzenarten und für Veränderungen von deren natürlichen Lebensräumen.
Damit will ich keineswegs verharmlosen, wie stark das Handeln der Menschen in den letzten zehntausend Jahren zur Verwüstung unseres Planeten und zur Vernichtung vieler Formen des Lebens beigetragen hat. Doch die Formel von der ‚totalen Verantwortung‘ des Menschen bleibt einer anthropozentrischen Philosophie verhaftet. Sie beinhaltet die realitätsferne Vorstellung eines ‚Gleichgewichts der Natur‘ – als ob in der Umwelt zu Lande wie zu Wasser eine konstante und unveränderliche ökologische Balance herrsche, die nur durch die Intervention der Menschen ‚aus dem Lot‘ gebracht würde.“
Die Schurkenstaaten
In Derridas „Schurken“-Analyse gibt es einen Hinweis auf das „Aus-dem-Lot-Geraten“ der Natur selbst, dazu erwähnt er den Chronicle of Higher Education, wo es heißt: „Im Tierreich wird ein ‚rogue‘ als ein Wesen definiert, das von Geburt an anders ist, […] es bleibt allein und kann in jedem Augenblick ohne Vorwarnung angreifen.“ Dies sind jedoch „Ausnahmen“. Im Menschenreich ist dagegen der „perverseste und gewalttätigste, der destruktivste aller ‚rogue States‘ heute – die Vereinigten Staaten und gelegentlich ihre Verbündeten“, meint Derrida – und beruft sich dabei auf die US-Autoren Robert S. Litwak und William Blum. Aber das sei eigentlich bereits alles Schnee von gestern, denn „künftig werden wir es nicht mehr mit dem klassischen Krieg zwischen Nationen zu tun haben, weil kein Staat den USA den Krieg erklärt hat oder als Staat gegen sie zu Felde zieht; wo aber kein Nationalstaat beteiligt ist, kann auch nicht mehr von Bürgerkrieg die Rede sein, ja nicht einmal mehr von ‚Partisanenkrieg‘, da es nicht mehr um Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, um einen revolutionären oder Unabhängigkeitskrieg zur Befreiung eines kolonisierten Staates und zur Gründung eines anderen geht. Aus denselben Gründen verliert der Begriff ‚Terrorismus‘ seine Triftigkeit, weil er stets und zu Recht mit ‚revolutionären Kriegen‘, ‚Unabhängigkeitskriegen‘ oder ‚Partisanenkriegen‘ verbunden war: mit Auseinandersetzungen, die immer um einen Staat, in dessen Horizont und auf dessen Boden geführt werden. Es gibt also nur noch Schurkenstaaten und gleichzeitig keine Schurkenstaaten mehr. Der Begriff ist an seine Grenze gestoßen, seine Zeit ist zu Ende.“
Bereits 2000 habe Madeleine Albright der Öffentlichkeit mitgeteilt, das State Department halte diese Bezeichnung nicht mehr für angebracht und man werde künftig neutraler und zurückhaltender von „States of concern“ sprechen. Derrida übersetzt dies mit „‚Sorgenstaaten‘ (Etats préoccupants), Staaten, die uns viele Sorgen bereiten, aber auch Staaten, um die wir uns ernsthaft besorgen und kümmern müssen – behandlungsbedürftige Fälle, im medizinischen wie im juristischen Sinn.“
Allerdings werden die „Schurken“ wahrscheinlich die „Schurkenstaaten“ und „rogue States“ noch für einige Zeit überleben. Und damit die Umwandlung der Agoren zu „Zonen der Barbarei“ (Robert Kurz) und „Hyperghettos“ (Loic Wacquan).