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Archiv-Artikel

Amol macht’s an Plumpser

Der Tod muss ein Wiener sein – nirgends sonst schwelgt man so lustvoll in Morbiditäten. Wer was auf sich hält, verabschiedet sich in Wien, wo die geschmackvolle Feier des letzten Wegs Tradition hat

VON RALF LEONHARD

„Was ist der Unterschied zwischen Zürich und dem Wiener Zentralfriedhof?“, lautet ein alter Witz: „Der Zentralfriedhof ist nur halb so groß, aber doppelt so lustig.“ Der Witz ist wirklich alt, denn die schweizerische Metropole hat ihren Amüsement-Faktor in den vergangenen Jahrzehnten unbestreitbar steigern können, wohingegen der Zentralfriedhof nicht mehr ganz so lustig ist wie ehedem. Vor zwanzig Jahren fanden dort allherbstlich muntere Treibjagden statt. Selbstredend hatte der Abschuss des Wildes in einer Weise zu erfolgen, dass „die Pietät gewahrt bleibt“, wie es die Verordnung vorschrieb. Kaninchen und Hasen, die als Bedrohung für die Grabbepflanzungen angesehen wurden, durften in unbegrenzter Zahl abgeknallt werden, Fasane nur unter Beachtung der gesetzlichen Schonzeiten, Rebhühner überhaupt nicht. Seit 1987 darf sich aber alles Getier ohne Angst vor der Flinte unbeschränkt vermehren. Im Winter bevölkert eine Unzahl von Saatkrähen den mit 250 Hektar zweitgrößten Friedhof Europas (der Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg ist doppelt so groß). Galgenvögel wurden sie früher genannt, weil sie sich an frisch Gehenkten gütlich taten.

Das Verhältnis der Wiener zum Tod ist legendär. Ihr eigenartiger Toten- und Todeskult fand wohl seinen stärksten Ausdruck in der Gestalt des „lieben Augustin“, eines betrunkenen Dudelsackpfeifers, der im Pestjahr 1679 nachts auf der Straße aufgelesen und in die Pestgrube befördert wurde. Dort erwachte er unter den aufgedunsenen Leichen und kletterte unversehrt wieder hinaus. Alfred Polgar sah das berühmte Augustinlied als geheime Bundeshymne: „Jeden Tag war sonst ein Fest. Jetzt aber haben mir d’Pest. Nur a groß’ Leichennest, das ist der Rest. Oh, du lieber Augustin, leg nur ins Grab dich hin. Oh, du mein herzliebes Wien, alles ist hin“.

In vielen Liedern sei vom Tod die Rede, aber nur in den Wiener Liedern schon in der ersten Zeile. So fasst der Dichter Franz Fuchs den makabren Gehalt des wienerischen Liedguts zusammen. Unzählige Lieder, die vor allem in weinseliger Stimmung beim Heurigen gerne angestimmt werden, geben Zeugnis von morbider Todessehnsucht: „Amol macht’s an Plumpser und aus is, weil herunt doch ka Mensch ganz zu Haus ist. Das Leben ist nur eine Durchgangsstation: a bisserl bleibst da – dann fahrst wieder davon. In Wien bin i, da bleib i und da möchte i sterb’n!“

Gestorben sind in Wien tatsächlich viele. Davon kann sich jeder Tourist auf dem Zentralfriedhof überzeugen. Mehr als eine Million Seelen bevölkern ihn – beigesetzt mit den Jenseitsvorstellungen der verschiedensten Religionen. So ist der erste buddhistische Friedhof Europas hier untergebracht. Eine Touristenattraktion ist der gigantische Gottesacker aber wegen der Ehrengräber. Neben Staatsmännern, populären Schauspielern, Fußballern und Malern haben die Musiker ihre eigene Abteilung. Wo immer sie geboren wurden – zum Sterben kamen sie nach Wien. Beethoven liegt hier unter einem Obelisken, der mit einer güldenen Lyra geschmückt ist. Johannes Brahms ruht neben seinem Mäzen und Liebhaber, dem Baron Dumba. Johann Strauß Vater und Sohn liegen Seite an Seite. Franz Schubert, Antonio Salieri, Christoph Willibald Gluck haben hier die ewige Ruhe gefunden. Manch einer musste von einem obskuren Vorstadtfriedhof umgebettet werden. Mozart hat seine Gruft nie bewohnt. Er wurde bekanntlich in einem Massengrab verscharrt. Seine vermeintlichen Überreste sind später in einem eigenen Grab auf dem St. Marxer Friedhof beigesetzt worden. Ihre Authentizität konnte bis heute nicht verifiziert werden, das Interesse an jeder Neuigkeit darüber ist ungebrochen.

Der geniale Musiker starb 1791, als pompöse Leichenbegängnisse verpönt waren. Kaiser Joseph II. (1765–1790), der große Aufklärer, hatte ganz Österreich mit seiner Begräbnisordnung von 1784 empört: Zuerst ließ er sämtliche Friedhöfe in der Innenstadt schließen, denn damals galt als erwiesen, dass das Grundwasser durch die vielen Leichen hoffnungslos verseucht war. Fortan durften Bestattungen nur mehr außerhalb der Stadtmauern, in der Vorstadt, stattfinden. Mit seinem Erlass, der hölzerne Klappsärge vorschrieb, aus denen der Tote in ein Gemeinschaftsgrab versenkt wurde, ging er dann wirklich zu weit. Die Leichen sollten nackt in einfache Leinensäcke eingenäht werden, die Särge konnten unten aufgeklappt werden und dienten nur zum Transport. Leichenzüge waren verboten. Schon nach einem Jahr musste Joseph dieses Dekret zurücknehmen:

„Da ich sehe und täglich erfahre, dass die Begriffe der Lebendigen leider noch so materialistisch sind, dass sie einen unendlichen Preyß darauf setzen, daß ihre Körper nach dem Todt langsam faulen und länger stinkendes Aas bleiben, so ist Mir wenig daran gelegen, wie sich die Leüte wollen begraben lassen, und werden Sie also durchaus erklären, daß nachdem Ich die vernünftigen Ursachen, die Nutzbarkeit und Möglichkeit dieser Art Begräbniss gezeigt hätte, Ich keinen Menschen, der nicht davon überzeügt ist, zwingen will vernünftig zu seyn, und dass also ein jeder, was die Truhen anbelangt, frey thun kan, was er für seinen toten Körper im voraus für das angenehmste hält.“ Die Nutzung des Klappsarges war aber weiterhin möglich. Mozart wurde tatsächlich, so wie es der Film „Amadeus“ von Milos Forman zeigt, auf diese Weise bestattet.

Dass sich die josephinische Bestattungsordnung in Wien nicht durchsetzen konnte, überraschte nicht. Nirgendwo sonst ist „a schene Leich“ so wichtig wie in dieser Stadt, die sich gerne ein besonderes Verhältnis zum Tod nachsagen lässt. Wo sonst gibt es ein eigenes Bestattungsmuseum, das keine morbide Einrichtung, sondern eine Sammlung von Kuriosa und Prunkstücken aus mehreren Jahrhunderten Begräbniskultur ist? Am Eingang lässt sich passende Literatur und Musik kaufen. „Auf immer verbunden“ heißt eine CD mit stimmungsvollen Melodien. Wer von einem Begräbnis kommt und erzählt, er war bei „einer schönen Leiche“, outet sich als Nichtwiener, wie Frau Rosemarie Ledl, die durch die Sammlung führt, festhält. „A schene Leich“, ohne e, das ist eine Bestattung mit Pomp, mit Würde, mit ausreichend Trauergästen und anschließender Bewirtung. „Entreprise des Pompes Funèbres“ nannte sich die 1867 gegründete erste Wiener Leichenbestattungsanstalt, also Unternehmen für Begräbnispomp. Als „Pompfüneberer“ ist das Personal der Bestattungsinstitute heute noch bekannt.

Die Art der Bestattung war eine Frage der Schicht. Vier Grundklassen wurden damals angeboten, plus eine Prachtklasse. Der Unterschied lag vor allem in der Beleuchtung – Kerzen waren teuer – und der Auskleidung des Aufbahrungsraumes. Der befand sich üblicherweise in der Wohnung des Verstorbenen, wo der oder die Tote 48 Stunden im offenen Sarg aufgebahrt werden musste. Die Wände wurden schwarz verkleidet, Handwerkern wurden die Innungszeichen, Militärs die Regimentsstandarten beigelegt. Jungfrauen hatten Anspruch auf blaue Trauertücher, und ihr Sarg wurde durch einen Myrtenkranz gekennzeichnet. Künstler ehrte man durch Lorbeerkränze.

Die Ausstattung der Trauerzüge ist ausreichend dokumentiert. Bis zu dreißig Priester schritten dem Sarg voran, dreißig bis vierzig Windlichtträger in schwarzer Livree nach spanischem Muster sorgten für gespenstische Stimmung. Für die teuerste Klasse war eine achtspännige Kutsche vorgesehen. Beisetzungen von Mitgliedern des Herrscherhauses – und davon gab es zahlreiche – waren Großereignisse. Mark Twain beschreibt, wie er den Trauerzug der 1898 in Genf ermordeten Kaiserin Elisabeth (Sisi) erlebte: Familien, die das Privileg hatten, eine Wohnung mit Blick auf den Trauerkondukt zu besitzen, vermieteten Fensterplätze für bis zu tausend Kronen. Das entspricht heute nahezu tausend Euro.

Die Habsburger und ihre Ehepartnerinnen landeten auf keinem Friedhof. Ihre sterblichen Überreste wurden wie die der ägyptischen Pharaonen einbalsamiert. Die Eingeweide lagern in Urnen in der Krypta des gotischen Stephansdoms, Herzen in silbernen oder bleiernen Urnen in der Augustinerkirche. Die für die Ewigkeit präparierte Hülle teilt die Zunft der Ahnen in der Gruft der Kapuzinerkirche.

Früher wurde sie nach jedem Neuzugang zugemauert. Heute ist sie – diskret ausgeleuchtet und voll klimatisiert – für Besucher, die einen Obolus von sechs Euro entrichten, zugänglich. Aufgekratzte Schülerinnen und Schüler wuseln durch die Hallen und lassen ihre Handy-Kameras vor dem Prunksarkophag Maria Theresias blitzen. Ausgerechnet Maria Theresia (1740–1780), der im Leben die barocke Prunksucht der meisten Herrscherkollegen und -kolleginnen fremd war, brach mit einer Tradition: Sie teilt einen Doppelsarkophag mit ihrem Gemahl und Kaiser Franz Stephan von Lothringen und ließ sich mit selbigem auf dem Deckel abbilden. Mit aufrechtem Oberkörper liegen sie, fast lebensgroß, einander gegenüber, dazwischen das Reichsszepter. Dieses üppige Grabmal bildet einen auffälligen Kontrast zu den Särgen ihrer Vorfahren, die bestenfalls mit metaphorischen Ornamenten und gekrönten Totenschädeln verziert sind.

Seit 1633 liegen die Kaiser – mit wenigen Ausnahmen – in Reih und Glied, jenseits des Ganges jeweils die zugehörige Gattin beziehungsweise die Gattinnen. Ferdinand III. (1636–1657) verschliss gleich deren drei. Die zweite, Maria Leopoldina von Tirol, wurde mit siebzehn vom Kindbettfieber dahingerafft. Den schlichtesten Sarg wählte Joseph II. Mittels Klappsarg in ein Massengrab befördert zu werden sagte ihm zwar nicht zu, doch „vernünftig seyn“ wollte er auch im Tode: Seine letzte Ruhestätte unterscheidet sich nur durch ein Kreuz auf dem Deckel von einer schlichten Metalltruhe.

Während man bei den Habsburgern davon ausgehen konnte, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Beisetzung wirklich tot waren, fürchteten im 16. und 17. Jahrhundert viele, lebendig begraben zu werden. Der übermäßige Genuss von Absinth und Morphinen versetzte die Menschen ab und an in einen Dämmerschlaf, der für die damalige Medizin vom Tod oft nicht zu unterscheiden war. Bis zu drei Prozent der Begrabenen sollen gar nicht tot gewesen sein.

In Frankreich biss man die mutmaßlich Verstorbenen in die Zehe. Der „croc mort“ dürfte auch den beharrlichsten Tiefschlaf beendet haben. In Wien ersann man raffiniertere Methoden, um dem Scheintod auf die Schliche zu kommen: Auf dem Währinger Friedhof, damals der größte Europas, wurde ein Rettungswecker angeboten. Eine Klingel, deren Seilzug an den Fingern der Toten befestigt wurde, sollte den Totengräber auf den Plan rufen. Wissenschaftlich erwiesen wurde zwar niemand auf diese Weise gerettet, aber der Währinger Friedhof war damals als letzte Ruhestätte enorm begehrt. Die Panik, im Scheintod lebendig begraben zu werden, war noch im 19. Jahrhundert bei vielen Menschen größer als die Angst vor dem Tod. Manche bestanden daher auf dem vom Arzt zu vollziehenden Herzstich. Prominente, wie der Dramaturg Johann Nepomuk Nestroy und der Schriftsteller Arthur Schnitzler, der als gelernter Arzt wusste, wie schlampig oft diagnostiziert wurde, wollten so letzte Zweifel ausräumen.

Um 1900 waren in Wien rund achtzig Bestattungsunternehmen registriert, die in beinharter Konkurrenz zueinander standen. Denn betuchte Kunden waren rar. Sprach sich herum, dass ein Wohlhabender in den letzten Zügen lag, belagerten die Bestatter wie die Aasgeier dessen Wohnung. Sie bezogen in den umliegenden Wirtshäusern Quartier und warteten auf eine Nachricht des angemessen bestochenen Personals, wie Frau Ledl im Bestattungsmuseum erzählt. Es soll regelrechte, wenig pietätvolle Prügeleien auf der Straße gegeben haben. Deswegen erntete Bürgermeister Karl Lueger fast ungeteilten Applaus, als er im Jahre 1907 die Bestattungsunternehmen Concordia und die Pompes Funèbres zusammenlegte und ein Gemeindemonopol schuf.

Gut neunzig Jahre war allein die Stadt Wien berechtigt, Verstorbene auf ihrem Gebiet unter die Erde zu bringen oder einzuäschern. Inzwischen musste dieses Monopol dank EU-Richtlinien aufgegeben werden. Jetzt steht es jedem frei, sich von einem privaten Bestatter im Ozean versenken, in den Weltraum schießen oder aus seiner Asche einen Diamanten pressen zu lassen. Die Mehrheit entscheidet sich aber nach wie vor für die bewährte Wiener Bestattung. Und für den Zentralfriedhof.

RALF LEONHARD, 51, ist ist gebürtiger Wiener und gelernter Jurist. Seit 1996 berichtet er für die taz aus Österreich