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Archiv-Artikel

Hören statt lesen

Hörbücher boomen und versorgen bildungswillige Akademikermit vielen neuen Geschichten, ohne dass auch nur eine Seite umgeblättert werden muss. Neuentdeckungen aus 2006

von INES KAPPERT

Preisfrage: Hört eigentlich auch jemand diese Hörbücher, die inzwischen in allen Buchläden herumstehen, oder sind das einfach nur Geschenkartikel? Den Buchhändlern jedenfalls wandert ein Lächeln in die Augen, will man mehr über den seit 2000 um jährlich rund 20 Prozent anwachsenden Markt erfahren. Immerhin unterliegt das Hörbuch keiner Buchpreisbindung.

Eine vom deutschen Buchhandel jüngst eingesetzte Arbeitsgruppe fand heraus, dass die vorgelesenen Bücher vorzugsweise von Akademikern gekauft werden. Hochschulabschluss und die Literatur-CD beim Auto- oder Zugfahren, bei der Pflege und Säuberung der Wohnung, des Körpers oder der Fingernägel, das scheint sich gut zu vertragen. Flugs wird die vermeintlich vertane Zeit mit einer Stimme und einer Geschichte unterlegt, hören statt lesen; man delegiert die Bilderproduktion im eigenen Kopf an eine fremde, geschulte Stimme. Warum nicht?

Immerhin dominiert keineswegs nur die von deutschen TV-Sternchen gelesene Trivialliteratur den Hörbuchmarkt. Auch Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, auf rund 30 CDs verteilt, verkauft sich, Franz Kafka, Samuel Beckett, Philip Roth verkaufen sich, T.C. Boyle verkauft sich: der Hörbuchmarkt ist groß und ausdifferenziert. Es hilft also nur das Übliche: Orientierung über das eigene Interesse herzustellen.

Zum Beispiel gibt es die kleine Geschichte vom „Anarchistischen Bankier“, die der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa 1922 verfasst hat; Hanns Zischler hat sie in diesem Jahr für den Wagenbach Verlag eingelesen. Der Protagonist setzt alles daran, den Widerspruch aufzulösen, gleichzeitig Anarchist und Bankier zu sein. Seine Argumentation: Der Anarchist will gesellschaftliche Fiktionen zerstören, die Ungerechtigkeit rechtfertigen und zementieren. Freiheit ist das Ziel, der Kampf gegen die Konvention der Weg. Aber, und nun kommt die Pointe: die Gruppe und jedweder Gruppenzwang stehen der Idee von Freiheit im Weg, bedeutet er doch, einem anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Es bleibt: die einsame Befreiung des Ichs. Und nachdem das Geld die wichtigste Heilserzählung des Kapitalismus ist, muss das Ego just aus seinen Fängen gelöst werden. Was also läge näher als die moralische Entwertung des Geldes durch seine rücksichtslos egoistische Akkumulation? Ein schlauer Fuchs, der Pessoa, und Hanns Zischler besticht durch einen ruhig dahinfließenden Vortrag. Die Spülmaschine ist inzwischen auch aus- und wieder eingeräumt.

Das nächste Fundstück verspricht gröbere Unterhaltung: „Harry Rowohlt liest die schweinischsten Stellen aus dem Alten Testament“. Prima. Tatsächlich aber handeln die herausgesuchten Textstellen aus den Büchern Mose, Samuel oder Hesekiel von weit mehr als schlichtem Sex. So steht die Figur des nackten Körpers ebenso wie der stets sehr wichtig genommene Sexakt für das grundsätzliche Regelwerk von menschlichem Zusammenleben, von Arbeit, Sklaverei, abendlichem Ausgang mit oder ohne Frau, von Familiengründung, dem Verbot der Homosexualität und das stets betonte Gebot, dass die Frau sich dem Mann zu unterwerfen habe. In aller Unaufdringlichkeit bringt Rowohlts grandioser Vortrag die patriarchale Grundlage der biblischen Erzählungen zum Vorschein, und die CD entpuppt sich als höchst instruktive Bibel für bildungswillige Atheisten.

Nicht weniger eindringlich und informativ, doch von einer ganz anderen Welt und Zeit berichtend, ist der von Sophie Rois vorgelesene Weblog einer Irakerin: „Bagdad Burning“. Mit dem Fall der ersten Bomben auf die irakische Hauptstadt beginnt die vierundzwanzigjährige Informatikerin, ihre Alltagsbeobachtungen unter dem Pseudonym „riverbend“ in die Welt zu schicken.

In schlichten Worten und bar jeden Pathos erzählt sie von ihrer Angst um Angehörige und von in ihren Fahrzeugen verbrannten Menschen, auf deren Grabhügeln die Autokennzeichen gesteckt werden, damit die Angehörigen sie irgendwann später ausfindig machen können.

Aber auch weniger offensichtlich Grausames wird vor Augen geführt: Etwa wie heute für Frauen jeder Gang raus aus der Wohnung der familieninternen Anmeldung bedarf, denn mit der amerikanischen Besatzung hat sich die Straße in einen rechtsfreien Raum verwandelt. Hatte die Erzählerin vor dem Krieg nie ein Kopftuch getragen, sondern als ausgewiesener Computerfreak Jeans und Rucksack bevorzugt, steht nun Verhüllung an. Und wenn möglich, sollten die männlichen Begleiter groß sein und bitte nicht freundlich anbieten, dass sie den gewünschten Rotkohl auch allein einkaufen könnten. Nein, das sollen sie nicht, denn diese kleine Erledigung ist für die Erzählerin mittlerweile fast die einzige Möglichkeit, ihr Sicherheitsgefängnis namens „zu Hause“ zu verlassen.

Angesichts der eigenen Not, dem rasanten Aufstieg des Fundamentalismus und einer grassierenden Armut scheint ihr denn auch die im Westen so geschätzte Vorstellung suspekt, nämlich dass bei der Ernennung einer neuen irakischen Regierung die Ethnie weit wichtiger ist als die politische und ökonomische Kompetenz. Nach Auflösung sämtlicher staatlicher Strukturen hat die Arbeitslosigkeit die 60 Prozent überschritten, und der Umstand, dass vor allem US-amerikanische Firmen den Wiederaufbau übernehmen, tut ein Übriges, das Land wirtschaftlich zu schwächen. Die CD endet im September 2004. Der Weblog der zwischenzeitlich für den britischen Literaturpreis nominierten Irakerin aber geht weiter: www.riverbendblog.blog- spot.com. Auch der Krieg ist noch weit von seinem Ende entfernt.

Fernando Pessoa: „Ein anarchistischer Bankier“. Gelesen von Hanns Zischler, Wagenbach 2006, 1 CD, 86 Min, 16 €Ľ„Die schweinischsten Stellen aus dem Alten Testament, gelesen von Harry Rowohlt“. Hörbuch Hamburg 2006, 1 CD, 71 Min, 9,95 € Riverbend: „Bagdad Burning“. Gelesen von Sophie Rois, Hörverlag 2006, 2 CDs, 146 Min., 17,89 €