WIE FINDET MAN EIGENTLICH IN BRÜSSEL DIE RICHTIGEN THEMEN? : Ignorierte Sinnfrage
BONSE FRAGEN
Es ist schon paradox: Die spannendsten EU-Themen kommen in Brüssel oft gar nicht zur Sprache. Sie werden ignoriert oder totgeschwiegen. Gestern gab es dafür wieder ein Beispiel. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Europawahl in den Niederlanden und in Großbritannien begann, stellte der niederländische Premier Marc Rutte klar, dass ihn das Ergebnis nicht interessiere.
Die Spitzenkandidaten, die auch in Holland um Stimmen werben, seien eine Erfindung des Europaparlaments, so Rutte. Weder Martin Schulz noch Jean-Claude Juncker, die Frontrunner von Sozial- und Christdemokraten, hätten ein Anrecht, EU-Kommissionschef zu werden. Damit stellte Rutte den Sinn der Wahl in Frage – und Brüssel schwieg.
Viel lieber redete die EU-Kommission über eine neue Initiative zum Schutz der Artenvielfalt. Das war nämlich das Topthema beim täglichen Midday-Briefing, mit dem die Brüsseler Behörde die Journalisten in ihren Bann zieht. Doch neben der Kommission haben natürlich auch der Ministerrat und das Europaparlament etwas zu sagen. Und dann sind da noch die nationalen Politiker, Kanzlerin Merkel etwa, die behauptete, die EU sei keine Sozial-Union.
Bei dieser Vielzahl der Themen ist es gar nicht so einfach für den EU-Korrespondenten, jeden Tag das Passende auszusuchen. Es ist immer wieder die Qual der Wahl: Soll man einfach der offiziellen Kommissionsagenda folgen? In der Praxis läuft es meist so, dass ich eine Vorauswahl treffe. Dabei stelle ich mir zwei Fragen: Was ist wirklich neu und relevant? Viele Themen sind nämlich nur ein Aufguss von gestern oder vorgestern. EU-Gesetze durchlaufen alle möglichen Instanzen und tauchen wie das Monster von Loch Ness immer wieder auf. Die Finanztransaktionssteuer ist ein trauriges Beispiel.
Die zweite Frage ist, ob ein Thema auch in Brüssel „spielt“. Wenn sich die Kommission nicht äußern will, findet sich oft ein Europaabgeordneter, der plaudert. Doch die sind gerade auf Wahlkampftour, Brüssel ist verwaist. Und so fällt manche Geschichte ins Wasser. Zum Beispiel die Rutte-Story: Sie hat es nur in meinen Blog geschafft.
Andere Themen müssen bis nach der Wahl warten. Zum Beispiel Merkels Äußerungen zur Sozial-Union: Sie werden sicher noch ein Nachspiel auf EU-Ebene haben. Schließlich wird der Ruf nach einem sozialen Europa immer lauter – auch in Brüssel.
Aber was soll’s: Jetzt haben erst mal die Bürger das Wort! ERIC BONSE