piwik no script img

Archiv-Artikel

Hüftsteifer Hoffnungsträger

BOXEN Obwohl Marco Huck bei seiner Titelverteidigung als Weltmeister im Cruiser-Gewicht seinem Herausforderer Denis Lebedew unterlegen ist, bekommt er den Sieg zugesprochen

„Willst du das denn verschenken heute Abend?“

TRAINER ULLI WEGNER

AUS BERLIN BERTRAM JOB

Euphorie geht natürlich anders. Als alles vorbei war, blies der Boxlehrer Ulli Wegner seine Backen auf und stützte sich leeren Blicks aufs oberste der vier Ringseile. In diesen Sekunden hätte der 68-jährige Mecklenburger wohl gern innegehalten, um sich von einer der schwersten Prüfungen in seiner Laufbahn zu erholen. Das Protokoll solcher Abende weist ihm jedoch eine andere Rolle zu. Gleich würde der erste Mann mit einem Mikro in der Hand auf ihn losgehen, um für den übertragenden TV-Sender seine erste Expertise einzuholen. Und von da an musste Wegner bis weit in die Nacht einen Boxkampf beschönigen, der ihm selbst nicht richtig gefallen hatte. Von da an musste er schauspielern.

Es ist Schwerstarbeit, sich zwölf Runden lang eines Herausforderers zu erwehren, der in fast allen Belangen besser ist, wie Wegners Schützling Marco Huck bei seiner fünften Titelverteidigung als Weltmeister nach WBO-Version im Cruisergewicht erfahren durfte. Doch beinahe ebenso schwer kann es sein, wenn man das Geschehen anschließend so darstellen soll, dass alles einen Sinn ergibt. Der Boxlehrer Wegner gab also noch einmal alles, um die Legende von der wundersamen Behauptung des Marco M. über die Rampe zu bringen. In ihr hatte sich der Titelträger den nicht einstimmigen Punktsieg (zweimal 115:113, einmal 112:116) über den Russen Denis Lebedew durch die wuchtigeren Einzeltreffer und eine Energieleistung im letzten Drittel des Duells in Berlin verdient.

„Janz klar, es war sehr knapp“, räumte Wegner mit heiserem Timbre ein, um dann die seltsame Rollenverteilung während der Pflichtverteidigung offen zu umreißen: „Ich hab sekundiert, und er hat gejammert.“ Immerhin hatte sich sein Schützling trotz einer vermutlich angebrochenen Rippe auf seine Weise doch irgendwie behauptet und deutlich mehr Willen als vor Kurzem etwa sein Stallkamerad Arthur Abraham gezeigt. Darum wollte Wegner an dem heiß diskutierten Verdikt der drei Punktrichter natürlich nichts aussetzen, wie er hinterher betonte – „aber ob ich glücklich bin, ist ’ne andere Frage“.

Der knorrige Coach war nicht glücklich, als der so schlagstarke wie wendige Herausforderer seinen Mandanten in der ersten Hälfte des Duells mit empfindlichen Haken zum Körper fast nach Belieben panierte sowie in jedem Schlagabtausch zwei, drei Hände mehr unterbrachte. Und die am Ring postierten Beobachter konnten in den Rundenpausen ungefiltert hören, was er wirklich dachte. „Willst du das denn verschenken heute Abend?“, raunzte Wegner nach dem siebten Durchgang. Nicht viel später nahm der Ton an Schärfe zu: „Wir sind hier doch nicht beim Kegeln!“ Das Gepolter ließ erst vor der Schlussrunde nach, als in der Ecke des Titelträgers die Führung auf zwei der drei Punktezettel kolportiert wurde – und Huck sich aufs Absichern besann.

Wie diese Zwischenstände den handelnden Personen überhaupt zur Kenntnis gelangen, ist eines der mysteriösen Rätsel dieser Showsportart. Ein anderes bleiben die Punkturteile, die in schöner Regelmäßigkeit den amtierenden Weltmeister bevorzugen. Selbst beim besten Willen konnte man Marco Huck an diesem spannenden Abend nicht mehr als vier oder fünf Runden zubilligen. Insofern übertrafen der Niederländer Lahcen Oumghar und Manuel Oliver Palomo die Erwartungen der Veranstalter noch. Dennoch mochte Lebedews Ecke nachher nicht protestieren. Der bis dato ungeschlagene Herausforderer (21 Siege) musste sich nur vorwerfen, nicht entschiedener auf einen Abbruchsieg gedrungen zu haben, als sein Gegner sichtlich beeindruckt und angeschlagen war. Und darum zitierte er eine alte Weisheit seines Sports: Gewonnen hat, wem am Ende der Ringrichter den Arm hochhebt.

Lebedew bleibt der kompletteste Profi in der Weltelite der schweren Boxer, und Huck bleibt Weltmeister. Bei allen Fortschritten habe der konvertierte Kickboxer „noch nicht die Erfahrung“, um ein solches Duell souverän durchzustehen, warb sein Promoter Sauerland hinterher um Verständnis. Das deutsche Publikum darf also weiter einem hüftsteifen Hoffnungsträger zusehen, der auch nach 32 Kämpfen (31 Siege) noch in der Ausbildung ist. Das funktioniert, weil es bei den Preisboxern gleich vier etablierte Weltverbände gibt – und bärbeißige Männer wie Ulli Wegner, die maulend Schwerstarbeit verrichten. Ob der Trainer viel geschimpft habe, wurde Huck noch gefragt. Der grinste, um dann zu beschwichtigen: „Es ist mehr ein Drohen.“